Ist die Musikwissenschaft ein Orchideen-Fach, Frau Siegert?

Christine Siegert ist seit Oktober 2023 Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Staatlichen Instituts für Musikforschung (SIM). Katrin Simon spricht mit der Beethoven-Expertin über Musikwissenschaft als Orchideen-Fach, Glücksspiel in der Oper und die Pionierstellung des SIM.

Porträt einer Frau mit halblangen dunklen Haaren, Brille und bunter Bluse vor einem Cembalo

Katrin Simon: Man hört oft, und auch in der Wissenschafts-Community, die Musikwissenschaft sei ein Orchideen-Fach. Wie kommt dieses Urteil zustande?

Christine Siegert: Wenn man sich die Akademien der Wissenschaften ansieht, sind da noch viel kleinere Fächer vertreten als die Musikwissenschaft. Aber Tatsache ist, dass die Musikwissenschaft in vielen interdisziplinären Kooperationen, welcher Art auch immer, nicht so vertreten ist, wie das aus meiner Sicht sinnvoll, zumindest aber möglich wäre. Als Begründung sagen Kolleginnen und Kollegen oft, dass sie davon nichts verstehen. Meine Vermutung ist, dass dies etwas mit dem Notenlesen zu tun hat. Bei Bildender Kunst würden die meisten sagen, man sieht ja, was da los ist.

Katrin Simon: Ich würde sogar sagen, bei Bildender Kunst braucht man viel stärker den kulturellen Kontext. Bei Musik geht das Verstehen doch ganz unmittelbar.

Christine Siegert: Joseph Haydn behauptet von seiner Musik, man verstehe sie durch die ganze Welt. Oder denken Sie an Beethovens: „Von Herzen – Möge es wieder – Zu Herzen gehen!“1. Viele, die Musik machen oder sich mit Musik beschäftigen, gehen davon aus, dass das ein ganz leicht verständliches Phänomen sei. Aber wenn es darum geht, Wissenschaft mit Musik zu betreiben, dann scheint da ein vermeintliches Problem auf, was aber mutmaßlich gar keins ist. Eigentlich hat doch jeder Mensch Erfahrung mit Musik. Das ist doch sehr viel, an das man anknüpfen kann. Aber da müssen wir noch ein bisschen werben für uns.

Katrin Simon: Die Musikwissenschaft ist mittlerweile sehr breit aufgestellt. Da gibt es die traditionelle Musikwissenschaft, die – ich würde sagen – eher historisch orientiert ist, und eine neue, für die vielleicht der neue Studiengang „Musik, Sound, Performances“ der FU Berlin steht. Was hat sich da in den letzten Jahren verändert?

Christine Siegert: Wir schauen uns inzwischen viel stärker die politischen, sozialen, kulturellen und anderen Kontexte an, in denen ein Werk entstanden ist. Oder wir stellen Netzwerke ins Zentrum, fragen also, wer noch beigetragen hat, dass ein Werk überhaupt entstehen konnte, dass es überhaupt aufgeführt werden konnte. Da kommen Kopisten und Kopistinnen in Spiel – und ich meine explizit auch KopistINNEN. Die Frage der Überlieferung von Musik war in manchen Kontexten stark weiblich geprägt. Verleger und Verlegerinnen dürfen wir nicht vergessen. Dazu gehört auch, dass wir inzwischen gelernt haben, dass die Trennung zwischen der sogenannten E- und U-Musik, also der Ernsten und der Unterhaltungsmusik, eine künstliche ist, die für die ältere Musikgeschichte überhaupt nicht relevant ist. Da stehen Unterhaltungsmusik und Musik mit höherem künstlerischen Anspruch gleichwertig nebeneinander. Das sind eher Fragen nach den sozialen Kontexten, dem Zweck oder dem Publikum oder vielleicht sogar eher ethnologische Blickwinkel, als solche, die bestimmte Komponisten und ihre Werke abgrenzen.

Katrin Simon: Mir scheint, dass sich die klassische Musikwissenschaft an Phänomene wie die Rock- und Popmusik in unserer Zeit nicht so recht herantraut. Dass man diese eher der soziologischen Forschung überlässt. Was muss passieren, damit sich daran etwas ändert?

Christine Siegert: Vielleicht muss man da jetzt noch ein paar Jahre Geduld haben. Spätestens, wenn man irgendwann eine Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts schreibt, kann man daran nicht vorbei. Die Rock- und Popmusikforschung hat sich als eine Art Antibewegung zur traditionellen Musikwissenschaft entwickelt, daraus resultieren bestimmte Vorbehalte. Aber natürlich gibt es da viele Anknüpfungspunkte. Zum Beispiel die Musiksoziologie, in deren Rahmen sich Kollegen mit Berufsgeschichten im 17. und 18. Jahrhundert beschäftigt haben. Es ist absolut möglich, soziologisch an historische Gegenstände heranzugehen, ebenso wie es natürlich auch möglich ist, mit stärker musikimmanenten Fragestellungen an Popmusik ranzugehen. Dazu braucht es aber andere Kriterien für die Analyse. Um 1800 gab es zum Beispiel sehr viel Tanzmusik. Die bekannten Komponisten haben dazu alle beigetragen, weil man damit gut Geld verdienen konnte. Diese Musik ist nichts, was man sinnvollerweise auf motivisch-thematische Arbeit hin untersucht, denn dabei würde nur herauskommen, dass das ziemlich einfach gestrickt ist. Man würde der Musik damit auch gar nicht gerecht werden, weil es nicht der Sinn dieses Werkes ist, besonders elaborierte musikalische Satztechnik zu haben. Da ist es wichtig, dass man sich andere Maßstäbe sucht, beispielsweise nach der Angemessenheit für den jeweiligen Zweck fragt. Wozu ist die Musik komponiert worden? Ein Beispiel ist auch die historische Tafelmusik, die hatte die gleiche Funktion wie die Musik, die heute in Restaurants läuft, nämlich Stille zu vermeiden. Man hat ab und zu hingehört und fand, dass irgendetwas besonders hübsch gemacht war, dann hat man ein kleines Trinkgeld gegeben. Wenn diese Musik zu elaboriert gewesen wäre und man deshalb zu intensiv zugehört hätte, dann hätte sie ihren eigentlichen Zweck, die Untermalung von Gespräch, verfehlt. In der Oper war es genauso: Man hat in seiner Loge gegessen, Glücksspiel betrieben, sich unterhalten, Geschäfte gemacht. Zwischendurch hat man mal zugehört, wenn der große Star aufgetreten ist, ob er noch die gleichen virtuosen Verzierungen gesungen hat wie am Tag vorher. Es wurde in Serie gespielt und natürlich wollte das Publikum auch immer die großen Hits hören, die auch gerne wiederholt wurden.

Katrin Simon: Und dann wurde auch zwischendurch eifrig geklatscht, was heute im Konzert ja noch ein echtes Sakrileg ist, zum Beispiel zwischen den Sätzen einer Sinfonie zu klatschen.

Christine Siegert: Natürlich hat man früher zwischen den Sätzen geklatscht und es wurde auch mal ein Satz wiederholt, weil er besonders gut angekommen ist. Kein Solist, keine Solistin hätte sich das nehmen lassen. Natürlich hat man auch Opernarien wiederholt, wenn das Publikum begeistert war. In Italien gibt es das nach wie vor. Dadurch entsteht eine ganz andere Interaktion zwischen Publikum und Musikerinnen. Aber ich habe den Eindruck, dass auch wir inzwischen deutlich entspannter sind, was diese ganzen Konventionen betrifft. Konzerte sind mittlerweile viel lebendigere Ereignisse, als sie das noch vor 50 Jahre waren.

Katrin Simon: Wenn es in Zukunft darum gehen soll, Musik stärker aus ihren Entstehungskontexten heraus zu verstehen, sie – was den Umgang mit ihr, also der Klassischen Musik betrifft – auch lebendiger zu machen. Wie kann das SIM mit seiner Arbeit dazu beitragen?

Christine Siegert: Das SIM hat ja einen Schwerpunkt in der Interpretationsforschung. Das ist ein Zugang zur sogenannten Klassischen Musik, der mit Methoden arbeitet, die eigentlich eher in der systematischen Musikwissenschaft angesiedelt sind. Da werden interdisziplinäre Grenzen in der Musikwissenschaft überschritten. Diese Grenzen sind historisch nachvollziehbar, aber es ist in jedem Fall sinnvoll, die verschiedenen Perspektiven zusammenzudenken. Die Interpretationsforschung ist ein herausragender Ort dafür. Ich denke auch, dass man bei der Frage von Editionen noch weitergehen könnte. Es gibt ja den Briefwechsel der Wiener Schule, der am SIM herausgegeben wird. Warum nicht mal so eine Edition aus dem Popularmusik-Bereich? Gerade hier in Berlin. Wenn man sich überlegt, welche Faszination die sogenannten goldenen Zwanziger Jahre auf die Gesellschaft insgesamt ausüben, da gäbe es viele spannende Projekte. Die Schönberg-Schule ist ja nur ein Teil des Musiklebens der Zeit. Da gibt es noch viel mehr, die Comedian Harmonists zum Beispiel. Eine Dokumentation ihres Briefwechsels wäre genauso interessant. Das könnte im editorischen Bereich ein absolutes Alleinstellungsmerkmal werden, gerade an diesem Standort Berlin, also Methoden, die man hier im SIM beherrscht, mit neuen Gegenständen zu verknüpfen. Der Kreativität sind da kaum Grenzen gesetzt.

Katrin Simon: Welche Rolle kann die Sammlung historischer elektronischer Musikinstrumente des MIM da spielen?

Christine Siegert: Das ist eine Riesenaufgabe für die Dokumentation und da ist Pionierarbeit zu leisten, was die Frage der Restaurierung und Bewahrung dieser Instrumente angeht, einschließlich aller Infrastruktur, die dazu gehört. Das sind ganz neue Aufgaben, die noch völlig ungelöst sind, auch was das Hörbar- oder Wiederhörbarmachen dieser Instrumenten betrifft. Da gibt es viele Möglichkeiten für Forschungsprojekte, und das SIM hat mit seinen Objekten und seiner Expertise eine sehr gute Ausgangsposition dafür.

Katrin Simon: Die SPK ist zurzeit ja in einer Umbruchsphase. Die Generaldirektion der Museen ist aufgelöst, neue Strukturen werden etabliert. Wo kann sich das SIM da positionieren?

Christine Siegert: Ich fände es sehr schön, wenn es zu einer noch engeren Zusammenarbeit der Stiftungseinrichtungen käme, als es vielleicht bisher der Fall ist. Man könnte innerhalb des Verbunds stärker aufeinander verweisen, von den Publikumsmagneten auf die kleineren Einrichtungen und Museen und das Publikum so neugierig darauf machen, was in der Stiftung insgesamt passiert. Da ist ja ein enormer Reichtum vorhanden. Auch bei gegenseitigen Leihgaben sollte viel offensiver darauf verwiesen werden, wo die Stücke herkommen. Oder man könnte inhaltliche Verbindungen stärker herausstellen: Die Besucherinnen der Nationalgalerie schauen sich zum Beispiel ein Bild an, auf dem ein Tasteninstrument oder eine Laute abgebildet ist, und erfahren dabei, dass es ein solches Instrument im Musikinstrumenten-Museum zu sehen gibt.

Katrin Simon: Es gab ja gerade diese Reihe „Porzellan und Musik“, wo Kolleginnen aus dem Kunstgewerbe- und dem Musikinstrumenten-Museum unter einer thematischen Überschrift gemeinsame Führungen durch ihre Sammlungen gemacht haben. Das kam sehr gut beim Publikum an. Warum tut man sich mit dem Thema Vermittlung oder Öffentlichkeitsarbeit oft so schwer?

Christine Siegert: Das ist zum Teil ein Problem der Musikwissenschaft oder der Wissenschaft überhaupt, dass wir viel zu selten und viel zu wenig schauen, wie wir Dinge nach außen kommunizieren können. Es geht mir ganz genauso. Wenn man eine Publikation in den Druck gegeben hat, ist sie für einen selbst abgeschlossen und man hat schon das nächste Projekt im Kopf. Für das Publikum ist es dann aber überhaupt erst da. Und diesen zweiten Schritt, den der Vermittlung, gehen wir oft nicht mit der gleichen Kraft wie den ersten. Die Frage, wie kann ich das, was ich gemacht habe, in die Gesellschaft transportieren, ist aber genauso wichtig wie die Publikation oder Forschungsarbeit selbst. Es passiert hier im SIM und auch in der Stiftung schon sehr viel in dieser Hinsicht, aber es kann noch mehr passieren.

Katrin Simon: Sie sind jetzt für fünf Jahre Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des SIM. Die Amtszeit kann noch einmal um fünf Jahre verlängert werden. Was möchten Sie in Ihrer Amtszeit erreichen?

Christine Siegert: Neben der öffentlichen Wahrnehmung wäre mir die fachliche Stärkung und Zusammenarbeit der verschiedenen Abteilungen des SIM wichtig. Es gibt nicht viele Institutionen, die das haben, wir im Beethoven-Haus Bonn haben das bis zum gewissen Grade auch, aber es ist ein bisschen anders organisiert. Das Fantastische hier ist, dass es Expertinnen ganz verschiedener Fachbereiche gibt, die ein großes Spektrum der musikwissenschaftlichen Forschung abdecken. Das stärker nach außen zu tragen, die Zusammenarbeit unter den Abteilungen zu fördern und auch die Zusammenarbeit mit den anderen Stiftungseinrichtungen, dazu würde ich gerne meinen Teil beitragen. Und gerne auch mit der Direktorin des SIM, Rebecca Wolf, überlegen, welche neuen Formate es gebe könnte oder selbst auch mal eine große Tagung an das SIM holen. Ich möchte dazu beitragen, dass das SIM in der Wissenschafts-Community noch stärker sichtbar wird und als selbstbewusste Institution seine Pionierstellung in der Musikwissenschaft noch weiter ausbauen kann.

Katrin Simon: Vielen Dank für das Gespräch.

Anmerkung

1„Von Herzen – Möge es wieder – Zu Herzen gehen!“: Widmung von Beethoven im Autograph der Missa solemnis

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Weiterführende Links

Prof. Dr. Christine Siegert wurde 1971 geboren und studierte Schulmusik, Musikwissenschaft, Romanistik und Philosophie in Hannover und Amiens (Frankreich). Sie war Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, des Deutschen Historischen Instituts Rom und der Gerda Henkel Stiftung. 2003 promovierte sie an der Hochschule für Musik und Theater Hannover mit einer Arbeit über Luigi Cherubini. Sie war von 2010 bis 2015 Juniorprofessorin an der Universität der Künste Berlin und leitet seit 2015 das Forschungszentrum Beethoven-Archiv am Beethoven-Haus Bonn.