Ligeti Meisterklasse

Staatliches Institut für Musikforschung und Berliner Philharmonie

von Manuel Brug

Fotos: SPK/photothek/Trutschel

Da singt doch einer! Man hört es schon durch die dicke Tür des Curt-Sachs-Saals im Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung. Wie das? Hier soll es doch zur Klaviermeisterklasse gehen, bei der György Ligeti im Zentrum steht. Doch ausgerechnet ein Schweizer ist hier mal nicht erwartbar intro-, sondern sehr extrovertiert. Drinnen sitzt nämlich Ueli Wiget, Pianist des Ensemble Modern von Anfang an, links auf der Bühne, die charakteristisch gelben Notenhefte vor sich auf den Knien wie am Boden und vokalisiert ausdrucksvoll mit als ihm Junhong Lee aus der Musica ricercata vorspielt.

Ein schönes, die Kulturforums-Anrainer plus Studenten der Hanns-Eisler Hochschule sowie der Universität der Künste vereinendes Projekt: Während die Berliner Philharmoniker in den Konzerten wie einer Ausstellung ihrer Biennale über zwei Wochen lang György Ligeti in den Fokus stellen, der diesen Mai seinen 100. Geburtstag hätte feiern können, gibt es im Musikinstrumenten-Museum und in der Philharmonie ein Symposium samt Masterclasses zum Thema „Ligeti Raum Interpretation“.

Und im Dauerfluss, aber stets freundlich, hagelt es jetzt bei der Klavierklasse weitere Wiget-Anmerkungen: „Absolut im Schreitpuls des Trauermarsches bleiben, nicht weich. Sie werden zu früh zu langsam, merken Sie es? Es ist komplex, dokadokadoka, in der Idee ist es ein Crescendo, das weiterführt, nicht aufhört. Und das müssen Sie nochmal üben.“

Der Schüler folgt, lässt sich nicht beirren, spielt selbstbewusst weiter. Jeder hat hier eine halbe Stunde Zeit beim bewährten Ligeti-Könner, da hält man sich nicht mit Befindlichkeiten auf, da wird soviel Praxis aufgesogen wie möglich.

„Ich würde ein helleres Instrument nehmen für den Diskant, genügend Dynamik spielen, damit Sie auflösen können auf Cis-Dur. Und wirklich wichtig ist: Pedal Off! Und: Das ist ein Stück, das in der Mitte hysterisch wird, aber nie weich, es bleibt ein Trauermarsch.“

Die Wiget-Kommentare sind immer plastisch beredt, es macht Spaß, ihm zuzuhören, besonders bei den Geräuschen, die er vollführt, um seine Anmerkungen zu untermalen.

„Es muss eine deutliche qualitative Unterschiedlichkeit in der Dynamik geben. Dies ist  ungarisches Understatement, da müssen Sie mehr bringen. Ouuouuouu – sforzato, aber nicht übertreiben, legatissimo! Nicht aufgeben, am Ball bleiben, insistieren Sie, dass es die Wiederholungen gibt. Aber leicht! Das klingt mir bisher nach zu viel Arbeit.“

Später wird Ueli Wiget von seinen so intensiven, wie auch komischen Begegnungen mit György Ligeti erzählen. „Auf unserer Sowjetuniontour mit dem Ensemble Modern habe ich 1990 etwa 15 Mal das Klavierkonzert gespielt, von Sibirien bis ins Baltikum. Vorher habe ich zwei, drei Tage mit ihm zu Hause daran gearbeitet, denn schon das erste Lesen der Noten und Durchspielen dauert zunächst mal sehr lange. Aber dann beginnen die Offenheit und der Spaß. An gewissen Punkten ist Ligeti sehr strikt, aber man muss sich auch Freiheiten nehmen.“

Etwa 40 Mal hat er das Klavierkonzert inzwischen aufgeführt. Auch das Trio für Horn, Geige und Klavier, an dem später zu arbeiten sein wird, hat Ueli Wiget oft gespielt, sogar mit dem Philharmonischen Solohornisten Stephan Dohr, der ebenfalls eine Ligeti-Meisterklasse gibt, und der in der Jungen Deutschen Philharmonie gespielt hat, mit der er in Kürze auf Tour Ligetis Hamburger Konzert für Horn spielen wird.

„Ligeti ist total wichtig für uns Pianisten“, führt Wiget weiter aus. „Wir sind ihm unglaublich dankbar für diesen Drei-Hefte-Katalog der Etüden. Das tolle Klavierkonzert wird allerdings nach meinem Verständnis immer noch zu wenig von Großen à la Argerich gespielt. Würden die das in ihr Repertoire aufnehmen, dann wäre es sofort durchgesetzt. Da ist das Schönberg-Konzert viel merkwürdiger. Ligeti hingegen ist ein flitzeschnelles Virtuosenstück allererster Güte! Da freut sich jede Mutter, die im Konzertsaal sitzt.

Er ist orchestral ein Klassiker, aber die Etüden waren zum Zeitpunkt ihrer Genese Utopien. Die konnte damals eigentlich keiner spielen. Und heute sieht man den unglaublichen Fortschritt der Generationen: Was die Ersten verdaut haben, können die nächsten nachkotzen – um es drastisch zu sagen. Das wird heute selbst von 17-Jährigen mit einer Selbstverständlichkeit gespielt, wo ich mich frage: Wann üben die das? Die Etüden geben auch viel zurück, sind jazzig, ungarisch, zeigen modales Denken. Man hört sie heute zur Aufnahmeprüfung und ganze Hefte davon im Konzert. Schade, dass er in seinen letzten Jahren nichts mehr komponiert hat, dass er so eine moralisch-depressive Hemmung hatte, eine Sinfonie hätte ich mir schon noch gewünscht.  In seinem Musikdenken ist er ein radikaler Schöpfer gewesen.“

Und schon geht es mit den zwei nächsten Klavierkandidaten weiter, Chloe Pak spielt die Etüde Nr. 8. „Sie haben schon gehört, dass der Flügel im unteren Diskant sehr dunkel ist, da dürfen Sie ordentlich Gas geben“, gibt ihr Wiget mit auf den Klavierweg. Er hört ruhig zu, seine Hände wandern durchs Gesicht. „Sie dürfen nicht zu langsam werden, müssen den Puls bis ins Unendliche weiterführen. Das ist zwar theatralisch, aber der Komponist will es so.“

Er erklärt und kommentiert die Vortragsbezeichnungen, versucht es praktisch zu konkretisieren. „Ligeti sagt, rhythmisch vortragen, mit Swing‘, also cool, etwas ausgelatscht. Man muss das Thema hören. Die linke Hand ist asymmetrisch, aber immer an der gleichen Stelle, das müssen wir begreifen. Ihr Phrasierungsverhalten muss farbiger werden, jede Abweichung sollte wichtig sein, Sie dürfen mehr machen. Es bleibt dabei immer sehr ungarische Musik. Ziemlich einfach, aber genau andersrum. Sie haben wahrscheinlich auch kleine Pfoten, wie ich. Wenn sie es schon nicht ganz greifen können, dann spielen sie es wenigstens fröhlich, genießen sie es. Wir müssen verstehen, was Sie uns da vorsingen, seien Sie nicht schüchtern.“

Ligeti-Frühes und -Spätes erklingt auch im Hermann-Wolff-Saal der Philharmonie. Da werden zunächst gerade die 6 Bagatellen durchgespielt, die Ligeti selbst in den frühen Fünfzigern aus Teilen seiner Musica ricercata für Flöte, Oboe, Horn, Fagott und Klarinette verfertigt hat. Stefan Dohr sitzt den Spielern gegenüber vor einem Notenpult, lässt immer wieder auf dem Handy die Metronom-App brummen.

Und auch er argumentiert sehr bildhaft: „Spielen Sie das, als hätten sie Ärger, mit den Geschwistern, oder eben den Quintett-Kollegen, was immer Sie sich vorstellen mögen. Oboe, Sie führen, ganz entspannt. Super, und nochmal bitte, damit es kein Zufall ist. Sehr scharf, das darf Gewalt haben.“ Ein Profi, der genau weiß, wie es geht, wo wie artikuliert werden muss, dabei freundlich, zugewandt, enthusiastisch in der Sache. So macht neue Musik Spaß.

„Nicht zu spät, nicht zu gemütlich“, wir sind im nächsten Satz. „Haltet die Balance, lauft Euch nicht davon. Der Generalverdacht fällt dabei immer auf die Klarinette. Risiko muss sein. Gelassener, mehr technisch. Es geht hauptsächlich um Tempo. Wenn Ihr das so weiterspielt, dann kommt Ihr auch richtig an. Zügig, aber ohne Lärm.“

„Da haben wir echt was mitgenommen“, sagt später die Klarinettistin Odile Ettelt, „da werden wir morgen gut bepackt sein.“ Man merkt, hier ist die Lektion schon sehr vorangeschritten. Man hält sich nur noch mit Details auf.

In der Pause, nachdem er sich als Instrumente aufbauender Orchesterwart gezeigt hat, hat Stefan Dohr ein paar Minuten Zeit. „Ligeti macht Spaß, und ist griffig“, bekräftigt er, „weil er immer diese packenden, ausgeprägt rhythmischen Komponenten hat. Wir Hornisten müssen ihm sowieso auf den Knien danken: So riesig ist sein Oeuvre ja auch nicht, und trotzdem gibt es für Horn die sechs Bagatellen sowie die zehn Stücke für Bläserquintett, das Horn-Trio und das Hamburger Konzert. Das Trio ist für mich darüber hinaus eines der wichtigsten Kammermusikwerke des 20. Jahrhunderts. Punktum. Es ist freilich so schwer, dass es nicht jeder spielen wird. Aber es kommen immer mehr Junge nach.“

Und Dohr legt enthusiastisch nach: „Ligeti hatte Lust an den Extremen, beim Horn vor allem an der Höhe und der Tiefe, er ist ein Dynamik-Ausreizer. Hermann Baumann, der das Trio uraufgeführt hat, hatte ihm damals gesagt, er könne bis zum C, spielen, Ligeti hat bis Es geschrieben…Wenn man seine Orchesterstücke spielt, ist man freilich leider kaum für die Kammermusik vorbereitet, dass ist nochmals anders. Das Trio ist echt vertrackt. Ligetis Musik ist nicht alt geworden. Sie ist wie die Philharmonie: ehrwürdig, einem gewissen Zeitgeist verhaftet, aber immer noch modern. Man sieht sie heute aus einer anderen Perspektive, aber immer sie ist noch zeitgenössisch gültig.“

Das Horn-Trio hat sich aufgebaut, zwei Frauen, Mascha Wehrmeyer, Violine und Helene Fleuter, Horn. Am Klavier sitzt Gorka Plada, der auch schon bei Ueli Wiget Etüden gebimst hat. Und wieder wird es ganz entspannt, es ist nur noch an Details zu schrauben. Dohr lässt jeden Satz erstmal durchspielen. „Gut, viel Schönes. Die längeren, gebundenen Noten sind manchmal nicht ganz platziert, das hat man aber beim sturen Zählen im Flow. Nicht aufeinander warten, einfach weiterspielen. Die vielen gegenläufigen Sachen sind schwierig. Das Trio läuft noch nicht so richtig zusammen, diese Wellen, mal gemeinsam, mal gegenläufig. Ich bin gerne pingelig, haltet das Tempo, ihr verliert an Druck.“

Beim Abschlusskonzert am 15. Februar um 20 Uhr im Curt-Sachs-Saal des Musikinstrumenten-Museums präsentieren Berliner Studierende Werke Ligetis.

Vom 9.2. bis 31.5. ist im Foyer der Philharmonie die vom SIM und der Paul Sacher Stiftung Basel kuratierte Ausstellung „György Ligeti zum 100. Geburtstag“ mit wenig bekannten Fotos und Dokumenten zu sehen. Die Ausstellung kann zu den Konzerten und während der Hausöffnungszeiten der Philharmonie besichtigt werden.

Termine

Abschlusskonzert Masterclasses
15. Februar, 20 Uhr, Curt-Sachs-Saal des Musikinstrumenten-Museums, Staatliches Institut für Musikforschung, Eintritt frei

Ausstellung „György Ligeti zum 100. Geburtstag“
9. Februar bis 31. Mai im Foyer der Philhamonie, kuratiert vom Staatlichen Institut für Musikforschung und der Paul Sacher Stiftung

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