Musikalische Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert: Retuschen

Veranstaltungsdatum: 17.11.2022
Ort der Veranstaltung: Curt-Sachs-Saal

mit Julian Caskel, Peter Gülke und Hans-Joachim Hinrichsen. Beginn: 19 Uhr

Gestaltungselement im Treppenhaus des SIM

Während wir das technische Verfahren der Retuschierung aus der Frühzeit der Fotografie gemeinhin mit der unlauteren Absicht verbinden, Geschichtsfälschungen den Anschein des Wahren zu geben, verhält es sich mit der Retuschierungspraxis in der musikalischen Aufführung zumindest bis zur Zeit der Tonaufzeichnung anders. Hier geht es um die Verbesserung, Verdeutlichung, Vereinfachung und Vereinheitlichung eines Notentextes zum Zwecke seiner guten Aufführbarkeit und mit Rücksicht auf ästhetische Vorlieben, analytische Erkenntnisse, Notwendigkeiten des Aufführungsraums, der verfügbaren Besetzung etc.

Auch wenn es also nicht um eine ähnliche Veränderung von geschehener Wirklichkeit geht – weniger fragwürdig sind derartige Eingriffe in den Werktext dennoch nie gewesen: Retuschen stehen stets zwischen legitimierter Praxis und Textverstoß. Dabei hat die Bereitschaft, auf Retuschen zurückzugreifen, durchaus kein Widerspruch zum Texttreueideal zu sein, und so entspricht es auch nicht immer der allgemeinen Erwartung, auf wessen Aufnahmen Retuschen zu hören sind.

Im Gespräch mit drei maßgeblichen Vertretern des Fachs wird es darum gehen, ein wenig Licht ins Dunkel dieses in der Öffentlichkeit wenig präsenten Themas zu bringen: An eindrucksvollen Beispielen wird gezeigt, worum es sich bei Retuschen eigentlich handelt; in welchem Repertoire retuschiert wurde und wird; und warum trotz aller Klangbearbeitungsmöglichkeiten der Aufnahme- und Wiedergabetechnik nach wie vor auch im Aufnahmestudio die traditionellen Formen der Retusche zum Einsatz kommen; welche Schwierigkeiten sich bei der Rekonstruktion von Retuschen auf Tonaufnahmen ergeben; und ob das Thema in der heutigen Musikpraxis überhaupt noch von Brisanz ist.

Julian Caskel, geboren 1978 in Köln, studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft an den Universitäten Heidelberg und Köln. Promotion im Jahr 2008 mit einer Arbeit zu Scherzosätzen im 19. Jahrhundert. Danach Mitarbeit in einem selbst konzipierten DFG-Projekt zu »Rhythmus und Moderne«. Habilitation im Jahr 2017 an der Folkwang Universität der Künste Essen, dort ist er seit 2021 Vertretungsprofessor für Historische und Systematische Musikwissenschaft. Zuvor bereits Vertretung von Professuren an der HFMT Köln sowie der Goethe-Universität Frankfurt. Publikationen zur empirischen Interpretationsforschung, zur Musiktheorie und intermedialen Musikästhetik sowie zur neueren Musikgeschichte von Haydn bis zur Gegenwart.

Peter Gülke, geboren 1934 in Weimar, ist Dirigent, Musikwissenschaftler und Musikschriftsteller. Er war u. a. Generalmusikdirektor in Weimar und Wuppertal und Professor im Fachgebiet Dirigieren in Freiburg im Breisgau. Gülke ist Autor zahlreicher Bücher, beispielsweise über Rousseau, Schubert, Brahms, Bruckner und Dufay, aber auch über musikalische Interpretation. Zuletzt erschien von ihm und Alfred Brendel Die Kunst der Interpretation. Gespräche über Schubert und Beethoven. Für sein Schaffen wurde Gülke u. a. mit dem Sigmund-Freud-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung, mit dem Karl-Vossler-Preis, mit der Ehrendoktorwürde der Universität Bern und mit dem Siemens-Musikpreis ausgezeichnet.

Hans-Joachim Hinrichsen studierte Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft an der FU Berlin und ist seit 1999 Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich (Emeritierung 2018). Mitherausgeber der Periodika Archiv für Musikwissenschaft und wagnerspectrum, ferner Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Beirats am Beethoven-Haus Bonn. Seine jüngsten, auch ins Japanische und Koreanische übersetzten Bücher gelten dem Schaffen Franz Schuberts, den Sinfonien Bruckners, den Liedern Mahlers und den Klaviersonaten Beethovens. Jüngste Buchpublikation: Beethoven. Musik für eine neue Zeit (2019, 22020).

Veranstaltungsdatum: 17.11.2022
Ort der Veranstaltung: Curt-Sachs-Saal
Beginn: 19 Uhr
Eintritt frei.

Allgemeine Informationen zur Vortragsreihe
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Verantwortlich und immer dabei: Heinz von Loesch und Jo Wilhelm Siebert

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