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Tempomessungen in Klaviersonaten Ludwig van Beethovens
Heinz von Loesch und Fabian Brinkmann
In einem mehrjährigen Projekt des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz und des Fachgebiets Audiokommunikation der Technischen Universität Berlin haben wir in Interpretationen von drei Klaviersonaten Ludwig van Beethovens (Appassionata, Sonate op. 2 Nr. 3, Hammerklaviersonate) aus den 1920er bis 2000er Jahren – genauer gesagt: in ihren ersten Sätzen – Takt für Takt das Tempo gemessen und hinsichtlich einer Reihe von Faktoren befragt: Haben sich das Tempo und die Tempogestaltung im Lauf der Zeit verändert? Gibt es national- bzw. kulturspezifische Traditionen? Lassen sich intersubjektive Tempoentscheidungen dingfest machen? Wie hat sich die Tempogestaltung bei ein und demselben Künstler über die Jahre und Jahrzehnte gewandelt? Wie verhält sich die interpretatorische Praxis zu dem, was die Werkausgaben berühmter Interpreten empfehlen?
Erste Teilergebnisse zu den Tempogeschichten der drei einzelnen Sonaten wurden bereits an anderen Orten publiziert.[1] Da sie in ihren individuelleren, werkspezifischeren Fragestellungen zuweilen über den vorliegenden Text hinausgehen, seien sie gleichfalls zur Lektüre empfohlen. Dass dieser Text nicht unser letzter Beitrag zu dem Thema sein wird, braucht kaum gesagt zu werden. Und angesichts der Fülle offener Fragen wird es sich jedem Leser von allein erschließen. Der Text versteht sich lediglich als eine Art größerer Zwischenstandsbericht.
Ein Dank geht zunächst und vor allem an die Studentinnen und Studenten des Fachgebiets Audiokommunikation der Technischen Universität Berlin, die im Laufe mehrerer Semester zum „Appassionata-Projekt“ an den umfangreichen und zeitaufwändigen Tempomessungen sowie an der statistischen Auswertung der Ergebnisse beteiligt waren. Für wohlwollende bis tatkräftige Unterstützung des Projekts danken wir dem Direktor des Staatlichen Instituts für Musikforschung Dr. Thomas Ertelt sowie dem Leiter des Fachgebiets Audiokommunikation Prof. Dr. Stefan Weinzierl. Ein ganz besonderer Dank geht an Dr. Simone Hohmaier für die kritische Lektüre des Textes, an Anne-Kathrin Breitenborn für die Bearbeitung der Grafiken sowie an Elisabeth Heil, Katrin Herzog und Lukas Michaelis (alle SIMPK) für die Onlineredaktion des Textes auf der Homepage des SIMPK.
Ein Wort noch zur Redaktion. Bei allen verallgemeinernden Aussagen über Pianistinnen und Pianisten haben wir aus pragmatischen Gründen stets die männliche Wortform ‚Pianisten‘ verwendet, wobei selbstverständlich auch die Pianistinnen mit gemeint sind. Alle anderen denkbaren Varianten schienen uns entweder zu umständlich, unschön oder schlicht grammatikalisch inexistent zu sein.
Berlin, 21. Februar 2013 und 3. März 2021
Heinz von Loesch und Fabian Brinkmann
Inhalt
1. Tempo und Temposchwankungen – Eine kurze Vorüberlegung zur Relevanz der Fragestellung
2. Zur Methodologie der Tempomessungen
4. Zur Auswahl der untersuchten Aufnahmen
5. Autographes Tempo in Beethovens Hammerklaviersonate – Praxis und Theorie
6. Tempobefunde
a. Bandbreite mittlerer Tempi
b. Geschichte des mittleren Tempos
c. Tempo, Temposchwankungen und Tempoamplitude: deutsch-österreichische und russisch-sowjetische Pianisten
7. Tempointerpretationen
a. Bandbreite mittlerer Tempi
b. Geschichte des mittleren Tempos
c. Tempo, Temposchwankungen und Tempoamplitude: deutsch-österreichische und russisch-sowjetische Pianisten
10. Artur Schnabel gegen sich selbst
1. Tempo und Temposchwankungen – Eine kurze Vorüberlegung zur Relevanz der Fragestellung
„Du weißt, wie wenig ich die Streite über Temponahme leiden mag, und wie für mich das innere Maß der Bewegung allein unterscheidet. So klingt das schnellere Allegro eines Kalten immer träger als das langsamere eines Sanguinischen.“ [2]
Mit diesen skeptischen Worten über Tempofragen leitet Robert Schumann seine Besprechung von Mendelssohns Interpretation der 4. Symphonie Ludwig van Beethovens ein, um dann jedoch in aller Breite auszuführen, warum ihm das Tempo des Scherzos zu langsam schien.
Es lässt sich drehen und wenden wie man will – Tempo ist ein wichtiger Parameter der Musik und der musikalischen Interpretation. Über Beethoven berichtet Anton Schindler, dass seine erste Frage, wann immer eines seiner Werke zur Aufführung gekommen war, lautete: „‚Wie waren die Tempi?‘ Alles Andere schien ihm secondärer Art zu seyn.“[3] Sir George Smart, der Dirigent der englischen Erstaufführungen mehrerer Werke Beethovens, darunter auch der 9. Symphonie, reiste im Sommer 1825 eigens nach Wien, um sich von Beethoven die genauen Tempi zu seinen Symphonien geben zu lassen, freilich um sie, nachdem Beethoven ihm viele der Themen auf dem Klavier vorgespielt hatte, „totally impossible“ zu finden.[4] Mit dem Metronom entstand dann ein Instrument, mithilfe dessen man das Tempo exakt bestimmen konnte, und Beethoven machte bekanntlich regen Gebrauch davon. Ebenso bekannt ist, dass damit ein Streit um die richtigen Tempi bei Beethoven entbrannte, der bis heute anhält, ein Streit, dessen Höhepunkt die Schrift Tempo and Character in Beethoven’s Music von Rudolf Kolisch aus den Jahren 1942/43 markieren dürfte.[5] Der Primarius des Kolisch- und des Pro Arte-Quartetts behauptet darin, dass sich durch Themen- und Charaktervergleich mit den von Beethoven metronomisierten Werken auch in den ohne Metronomangaben überlieferten Stücken zweifelsfrei das richtige Tempo bestimmen ließe. Über diese These geriet Kolisch anlässlich eines Vortrags auf dem Kongress der American Musicological Society 1942 in New York in einen lautstarken Wortwechsel mit Artur Schnabel, der seinerseits zwar die Hammerklaviersonate in Beethovens Metronomisierung eingespielt hatte (siehe dazu ausführlich unten), die These von Kolisch jedoch für überzogen und anmaßend hielt.[6]
Von ähnlicher Bedeutung wie das allgemeine Tempo ist die Frage der Temposchwankungen, die Frage von Tempofreiheit und Tempokonstanz. Die berühmte Polemik Richard Wagners gegen das Dirigat Mendelssohns entzündete sich neben den angeblich zu raschen auch an den angeblich zu konstanten Tempi.[7] Namentlich in lyrischen Partien senke er das Tempo nicht genügend ab.[8] Umgekehrt gerieten im 20. Jahrhundert Interpretationen mit einer freizügigen Tempogestaltung so sehr in Misskredit, dass ihre Verursacher sogar moralisch verurteilt wurden. Arnold Steinhardt, der Primarius des Guarneri-Quartetts, berichtet über eine Probe des Beethoven‘schen Violinkonzerts mit George Szell:
„Als ich mir während des lyrischen g-Moll-Teils in der Durchführung des ersten Satzes mehr Zeit nehmen wollte, wurde George Szell böse und nannte mein Spiel rührselig und die kompositorische Struktur zerstörend; er bestand darauf, daß ich meinen Part in der Aufführung vollkommen im Tempo spiele. Zwar konnte Szell gelegentlich auch sich selbst gehen lassen und Tempi wechseln; aber er dachte wahrscheinlich, ich sei ein furchtbar zügelloser Mensch und bedürfe einer Lektion.“[9]
Bemerkenswert an diesem Bericht – so weit er wirklich den Tatsachen entspricht – ist nicht nur der Sachverhalt, dass Szell Steinhardt für Tempofreiheiten moralisch in Haftung nimmt, sondern dass Steinhardt auch umgekehrt mit Szell so verfährt. Steinhardt redet bei Szells Tempofreiheiten gleichfalls von „sich gehen lassen“. Noch rigider in dieser Frage war Svjatoslav Richter. In einem Interview zur Appassionata anlässlich des 200. Geburtstages von Beethoven und des 100. Geburtstages von Lenin in der Sovetskaja muzyka 1970 bezichtigte er Pianisten, die in der Überleitung des ersten Satzes nicht am Tempo festhalten, der Undiszipliniertheit, Trägheit und einer „Waschlappen-Mentalität“.[10] Im 20. Jahrhundert gerieten Temposchwankungen derart in Verruf, dass man sie zuweilen selbst dort scheute, wo sie vom Komponisten vorgeschrieben sind. José Bowen zeigt das unter anderem an Interpretationen der 6.Symphonie von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky.[11] Und sogar Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis sind wider besseres Wissen kaum willens oder in der Lage, in der Musik der Klassik und Romantik jenes Maß an Temposchwankungen zu realisieren, von dem nach Lage der Quellen ausgegangen werden muss.[12]
2. Zur Methodologie der Tempomessungen
Nun kann man Tempofragen natürlich nicht nur normativ, sondern auch deskriptiv behandeln. Man kann z.B. fragen, wer was in welchem Tempo spielt, ob und wie sich Tempogestaltung im Laufe der Zeit verändert hat und ob es national- oder kulturspezifische Tempotraditionen gibt. Dank des Computers ist es inzwischen weitaus besser möglich, Tempo und Temposchwankungen zu messen. Allerdings nach wie vor nur halbautomatisch, da bei vollautomatischer Messung die Fehlerhäufigkeit zu hoch ist.
Die am weitesten verbreitete Software für Tempomessungen ist der sogenannte Sonic Visualiser. Mit seiner Hilfe kann man beim Abhören einer Aufnahme durch das Anschlagen einer Computertaste hör- und sichtbare Marker setzen und sie dann bei wiederholtem Hören auf ihre Richtigkeit überprüfen.[13] Für Tempountersuchungen genügt es – im Unterschied zur Untersuchung von Rhythmik und Agogik –, jeweils die erste Zählzeit eines Taktes zu markieren, wodurch man Auskunft über das mittlere Tempo eines jeden Taktes erhält. Auch gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass eine Tempobestimmung anhand der jeweils ersten Zählzeiten ganz eng mit dem empfundenen mittleren Tempo eines Musikstücks oder einer musikalischen Passage zusammenhängt.[14] Auf Grundlage der so gewonnenen Werte lassen sich dann Tempografiken erstellen wie beispielsweise die folgende, die den Tempoverlauf im Kopfsatz von Beethovens Klaviersonate op. 2/3 in der Aufnahme von Claudio Arrau aus dem Jahre 1986 zeigt (siehe Abbildung 1). Auf der x-Achse sind die Takte aufgetragen, auf der y-Achse das Tempo in BPM (‚beats per minute‘ = M. M.), und zwar in logarithmischer Darstellung, was einem proportionalen Tempohören entspricht. Die Verbindungslinie zwischen den einzelnen Takten dient nur der besseren Darstellung des Tempoverlaufs von Takt zu Takt, sagt jedoch nichts über den Tempoverlauf innerhalb der einzelnen Takte aus.
Abbildung 1: Tempokurve Sonate op. 2/3 Claudio Arrau (1986)
Über die Herstellung von solchen Tempokurven hinaus kann man das Tempo auch über mehrere Takte mitteln, sodass sich beispielsweise sagen lässt, in welchem (mittleren) Tempo ein Pianist dieses oder jenes Thema spielt und in welcher Temporelation es sich zu einem anderen Thema befindet. Man kann Temposchwankungen von Takt zu Takt aus dem Verhältnis aufeinanderfolgender Tempowerte berechnen, gleichfalls mitteln und sagen, ob ein Pianist im Durchschnitt strenger oder freier im Tempo spielt. Es lässt sich die Tempoamplitude – die Relation von schnellsten und langsamsten Werten in einer Aufnahme – bestimmen. Und man kann natürlich auch die reine Spieldauer messen und in einen mittleren Tempowert umrechnen.
Bei der Bestimmung der Tempoamplitude – der Relation von schnellsten zu langsamsten Tempowerten einer Aufnahme – kann man allerdings nicht alle Tempowerte zu Grunde legen, sondern muss bestimmte Takte ausschließen: bei punktuellen extremen Ritardandi, Taktverlängerungen an Abschnittsgrenzen und ähnlichem. Bezöge man sie mit ein, so würden einmalige extreme Verlangsamungen in Interpretationen, die ansonsten streng im Tempo verlaufen, unter Umständen zu einer Tempoamplitude führen, über die sie gar nicht verfügen. Im Einzelfall ist die Entscheidung, welche Takte man ausschließt und welche nicht, gar nicht so einfach und bedeutet in jedem Falle bereits einen Akt der Interpretation. Darüber hinaus werden, um die Bedeutung einzelner Tempospitzen oder Tempotäler auch weiterhin nicht zu überschätzen, am oberen und unteren Ende der Skala jeweils noch einmal 2% der äußersten Tempowerte verworfen.
Was die Temposchwankungen angeht, so diskutieren wir hier jeweils die Werte für Temposchwankungen von Takt zu Takt. Bei der Sonate op. 2/3 haben wir Berechnungen probeweise auch einmal auf der Ebene von Zweitaktgruppen und von Formabschnitten angestellt. Bei den Temposchwankungen von Takt zu Takt handelt es sich nämlich oftmals nicht um Temposchwankungen im eigentlichen Sinne, sondern um Elemente der Phrasenbildung – also um etwas, das man auch als ‚Rhythmus im Großen‘ bezeichnen könnte. Ein gutes Beispiel stellen die ersten Takte von op. 2/3 dar (siehe Abbildung 1). Die stark divergierenden Tempowerte von Takt zu Takt sind weder als Temposchwankungen intendiert, noch nimmt man sie als solche wahr, sie sind lediglich die Folge einer prägnanten zweitaktigen Phrasierung bei minimaler Längung der Pausen im zweiten und vierten Takt.
Waren wir also bestrebt, uns der Kategorie der Temposchwankung auch auf andere Weise zu nähern als nur von Takt zu Takt, so zeigte sich jedoch, dass bei allen Differenzen im Detail signifikante Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Schwankungsformen bestehen. Wer von Takt zu Takt im Tempo stärker schwankt, der tut es in der Regel auch von Zweitaktgruppe zu Zweitaktgruppe sowie von Formabschnitt zu Formabschnitt. Bei der anschließenden Präsentation der Ergebnisse werden wir uns daher mit einer Darstellung der Temposchwankungen von Takt zu Takt begnügen.
3. Zur Auswahl der Stücke
Dass wir uns bei unseren Tempostudien für Werke von Ludwig van Beethoven entschieden haben, mag zum einen in der persönlichen Vorliebe und im Interesse der Autoren begründet sein, beruht zum anderen aber auf einer Reihe sachlicher Faktoren. Die Frage des Tempos hat bei der Interpretation Beethoven‘scher Musik stets eine besondere Rolle gespielt (siehe dazu auch Kapitel 1). Erstens gibt es zu einer Reihe von Werken Metronomangaben des Komponisten, die bis heute eine unerschöpfliche Quelle für Diskussionen darstellen. Allein die Literatur zu diesem Thema ist kaum zu übersehen. Zweitens ist es bei Werken Beethovens immer wieder zu stark divergierenden Tempoentscheidungen von Seiten der Interpreten gekommen. Ein besonders krasses Beispiel dafür werden auch unsere Tempomessungen zeigen. Drittens ist seit Richard Wagners Schrift Über das Dirigieren aus dem Jahre 1869 wiederholt behauptet worden, dass bei Beethoven das Tempo besonders flexibel behandelt werden müsse, flexibler als z.B. bei Mozart[15] – gleichfalls Anlass für wiederholte Diskussionen. Und viertens gibt es eine Reihe instruktiver Ausgaben der Klaviersonaten Beethovens von berühmten Interpreten zwischen den 1870er und den 1920er Jahren – Hans von Bülow 1873, Eugen d’Albert 1902, Frederic Lamond 1923 und Artur Schnabel 1924–1927 –, die ihren flexiblen Tempovorstellungen in differenzierten Metronomisierungen Ausdruck verliehen haben und damit ein konkretes Ausgangsmaterial für historische Tempostudien bei Beethoven bilden. Hinzu kommt eine größere Zahl weiterer Ausgaben und Werkkommentare seit Ignaz Moscheles (1838/39) und Carl Czerny (1842), die zwar keine Hinweise zu Tempomodifikationen innerhalb der Sätze geben, doch für jeden Satz der 32 Sonaten eine konkrete Metronomzahl nennen.
Dass wir uns für Klaviersonaten Beethovens entschieden haben – und nicht für Sinfonien, Streichquartette oder Violinsonaten –, liegt zum einen an diesem historischen Anknüpfungspunkt der Noteneditionen, den es für keine andere Gattung der Musik Beethovens gibt. Ferner, weil Tempomessungen größeren Umfangs unseres Wissens bisher noch nie an Klaviersonaten Beethovens vorgenommen wurden – im Unterschied zu den Sinfonien etwa.[16] Schließlich aber auch, weil wir glaubten, dass Tempomessungen bei Werken für Klavier aufgrund des eindeutigeren Tonbeginns im Gegensatz zu Streichinstrumenten oder größeren Besetzungen leichter zu bewerkstelligen seien. Diese Annahme hat sich als Trugschluss herausgestellt: Die Markierung der Hauptzählzeiten in den virtuosen Passagen vor dem Più Allegro im Kopfsatz der Appassionata erwies sich insbesondere bei den Vorkriegsaufnahmen – aber keineswegs nur bei ihnen – als überaus schwierig, so wie gleichfalls in den erstaunlicherweise gerade in der Sonate op. 2/3 häufiger begegnenden kantablen Partien, in denen die Töne der rechten und linken Hand nicht gemeinsam angeschlagen werden und immer wieder von Fall zu Fall entschieden werden muss, welcher Ton die Zählzeit bestimmt.
Dass wir dann konkret die Klaviersonaten op. 2/3, op. 57 (Appassionata) und op. 106 (Hammerklaviersonate) ausgewählt haben, beruht darauf, dass es sich bei den drei Sonaten des ‚frühen‘, ‚mittleren‘ und ‚späten‘ Beethoven um Werke handelt, die über einen ausgedehnten, ungefähr gleich langen, schnellen ersten Satz in Sonatenhauptsatzform verfügen – Sätze, die aufgrund ihrer Länge, aber auch spezifischen Faktur die Frage der Tempomodifikationen als relevant erscheinen ließen. Bei der Hammerklaviersonate interessierte uns dann ganz speziell auch die Frage, wie die Interpreten mit der vieldiskutierten, ja umstrittenen extrem raschen autographen Metronomangabe umgehen.
4. Zur Auswahl der untersuchten Aufnahmen
Da das Verfahren der taktweisen Markierung von Hand mit all seinen unvermeidlichen Korrekturdurchgängen sehr zeitaufwändig ist – nicht zuletzt auch aufgrund der Länge der Sätze –, konnte von vornherein nicht daran gedacht werden, extrem große Mengen von Aufnahmen heranzuziehen. In der Schnittmenge zwischen Machbarkeit einerseits und methodischen Überlegungen zur Zusammensetzung der Diskographien andererseits (dazu gleich mehr) hat sich die Zahl der untersuchten Aufnahmen dann bei 45 bzw. 50 pro Satz eingependelt. Bei der Appassionata haben wir, als sich ein bestimmtes bemerkenswertes Untersuchungsergebnis abzeichnete, für die reine Spieldauernbestimmung die Zahl noch einmal um 25 auf 75 Aufnahmen erhöht, was hier problemlos möglich war, da es keine Wiederholungen gibt, die ein Interpret spielen oder weglassen kann. Wir brauchten lediglich die Zeiten vom ersten bis zum letzten bzw., da dieser häufig im Klangnebel verschwindet, vorletzten Takt zu messen und hatten bereits valide Ergebnisse.
Bei der Zusammenstellung der Diskographien haben wir uns um Aufnahmen bemüht 1. von namhaften Pianisten, 2. aus allen Jahrzehnten der Schallplattengeschichte sowie 3. unter Berücksichtigung auch von Mehrfacheinspielungen derselben Interpreten im Verlauf von mehreren Jahrzehnten. Im Ergebnis bedeutet das, dass wir aus den 1920er bis 1940er Jahren in der Regel alle oder nahezu alle erreichbaren Aufnahmen herangezogen haben[17]; für die Zeit danach haben wir eine einigermaßen ausgewogene Verteilung über die Jahrzehnte angestrebt, wobei wir Mehrfacheinspielungen ein und derselben Interpreten innerhalb eines Jahrzehnts, um die Ergebnisse der statistischen Auswertung nicht zu sehr zu verfälschen, entweder von vornherein nicht berücksichtigt oder aber aus den statistischen Berechnungen dann herausgenommen haben. Trotz aller Bemühungen bleibt dennoch ein Moment des Zufälligen, sowohl was die Entscheidung angeht, welcher Pianist als namhaft gelten soll, als auch hinsichtlich der aktuellen Verfügbarkeit von Aufnahmen.
Abbildung 2: Diskographie Appassionata
Bei der Appassionata ist die Quellenlage glänzend (siehe Abbildung 2). Es gibt eine große Zahl an Aufnahmen bedeutender Pianisten, darunter bereits viele Einspielungen aus den 1920er bis 1940er Jahren. Zahlreiche Pianisten haben die Sonate über Jahrzehnte mehrfach eingespielt. Und da das Werk für die sowjetische Musikideologie stets von besonderer Bedeutung war, nicht zuletzt, weil sie angeblich das Lieblingsstück von Lenin gewesen sein soll, gibt es sehr viele Einspielungen auch von russischen bzw. sowjetischen Pianisten.
Abbildung 3: Diskographie Sonate op. 2/3
Bei den anderen beiden Sonaten ist die Quellenlage nicht ganz so gut. Bei der Sonate op. 2/3 (siehe Abbildung 3) ist die Zahl an Aufnahmen vor 1950 deutlich geringer, wobei die beiden Aufnahmen aus den 1940er Jahren auch noch von ein und demselben Pianisten stammen (dem jungen Arturo Benedetti Michelangeli). Es gibt weniger Mehrfacheinspielungen und weniger russisch-sowjetische Aufnahmen.
Abbildung 4: Diskographie Hammerklaviersonate
Bei der Hammerklaviersonate (siehe Abbildung 4) gibt es aus den 1930er und 1940er Jahren überhaupt nur zwei Aufnahmen[18], russische bzw. sowjetische Pianisten haben sie ähnlich selten eingespielt wie op. 2/3. Das auffälligste Merkmal ist jedoch, dass die Sonate weit seltener – nicht nur als die Appassionata, sondern auch als op. 2/3 – von ein und demselben Pianisten über Jahre oder sogar Jahrzehnte mehrfach eingespielt wurde. Hier täuscht der flüchtige Blick in Tonträgerverzeichnisse. Bei vielen der dort zu findenden Zweit- oder Dritteinspielungen handelt es sich um Rundfunkaufnahmen oder Konzertmitschnitte aus exakt denselben Jahren, in denen die Pianisten die Sonate auch im Tonstudio eingespielt haben, so etwa bei Gieseking, Backhaus, Serkin, Richter, Sokolov und Gilels. Bei den zweiten Gesamteinspielungen der Sonaten von Backhaus und Arrau aber wurde in den zweiten Zyklus überhaupt jeweils nur die Aufnahme aus dem ersten Zyklus übernommen (bei Backhaus sogar eine Mono-Aufnahme in einen Stereo-Zyklus). Backhaus wie Arrau haben die Hammerklaviersonate nur einmal für Tonträger eingespielt.
Dieser Sachverhalt ist freilich bedeutsam nicht nur für die Diskographie unserer Studie. Sie ist bedeutsam für die Rezeption des Werkes überhaupt, da sie zeigt, in welch begrenztem Zeitraum sich manche Pianisten mit dem Werk in der Öffentlichkeit bewegt haben (Richter, Gilels, Sokolov) bzw. wie wenig bereit oder in der Lage sie waren, es nach mehreren Jahren noch einmal aufnahmereif – und vielleicht sogar in einer neuen Lesart – zu präsentieren (Backhaus, Arrau).[19]
5. Autographes Tempo in Beethovens Hammerklaviersonate – Praxis und Theorie
Bevor wir mit der vergleichenden Betrachtung der einzelnen Tempoparameter in allen drei Sonaten beginnen, wollen wir zunächst über eine Frage berichten, die nur die Hammerklaviersonate betrifft. Inwiefern realisieren die Pianisten die autographe Metronombezeichnung Beethovens? Da grundsätzlich nicht klar ist, worauf sich eine Metronomangabe bezieht – auf das mittlere Tempo eines Satzes oder nur auf die ersten Takte –, läge es nahe, auf die Frage auch eine doppelte Antwort zu geben. Insofern als bei der Hammerklaviersonate jedoch so viele Pianisten die Auffassung vertraten, dass gerade die ersten Takte hinsichtlich des Tempos problematisch seien, verzichten wir von vornherein auf eine Untersuchung dieses Sachverhalts. Eine Aussage über das Tempo in den ersten Takten wäre lediglich eine Aussage über das Tempo in den ersten Takten, nichts sonst.
Was dagegen die Frage des mittleren Tempos betrifft, so gilt zu bedenken, dass der Satz zahlreiche Ritardandi und Fermaten enthält, die das mittlere Tempo erheblich verlangsamen würden und an deren Einbezug Beethoven bei der Metronomisierung des Satzes ganz sicher nicht gedacht hat. Wir haben all diese Verlangsamungstakte bei der Bestimmung des mittleren Tempos dementsprechend herausgerechnet.
Abbildung 5: Mittleres Tempo Hammerklaviersonate (ohne Ritardando- und Fermatentakte)
Betrachtet man das so bestimmte mittlere Tempo des Satzes (siehe Abbildung 5), so kommen in die Nähe von Beethovens geforderten Halben = 138 nur ganz wenige Pianisten: Artur Schnabel (1935) sowie bestenfalls Michael Korstick (2003) und Walter Gieseking (1949). Schon Friedrich Gulda in seinen beiden Einspielungen (1951, 1967) und Michael Leslie (2008) liegen deutlich darunter. Die Mehrzahl der Pianisten bewegt sich in dem durch Interpretationsausgaben und andere Werkkommentare von Ignaz Moscheles (1841) bis William S. Newman (1971) genannten Rahmen zwischen 116 und 92 pro Halbe (dazu gleich mehr). Und zwei Pianisten spielen sogar so langsam, wie es Felix Weingartner in seiner Transkription des Werkes für Orchester (1926) vorgeschlagen hatte: Glenn Gould (1970) und Tatjana Nikolajewa (1983). Weingartner empfahl Halbe = 80.[20]
Bevor wir diese Tempodaten im Vergleich interpretieren, werfen wir zunächst einen ausführlicheren Blick auf die Diskussionen über das richtige Tempo im ersten Satz der Hammerklaviersonate seit den 1840er Jahren. Nur Carl Czerny, der die Sonate mehrmals mit Beethoven studiert und sie zum ersten Mal öffentlich zur Aufführung gebracht hat, ging offenbar davon aus, dass das Tempo von Halben = 138 spieltechnisch zu realisieren und auch ästhetisch sinnvoll sei. Im Beethoven-Kapitel der Kunst des Vortrags der älteren und neueren Klavierkompositionen in der Klavierschule op. 500 aus dem Jahre 1842 schreibt er:
„Die Hauptschwierigkeit liegt in dem, vom Autor selber vorgezeichneten ungemein schnellen und feurigen Tempo, ferner in dem Vortrage der melodiösen, aber vielstimmigen und im strengsten Legato auszuführenden Stellen, in der reinen Ausführung der Passagen, Spannungen und Sprünge, und endlich in der Ausdauer, welche das Ganze fordert. Alle einzelnen Schwierigkeiten sind Sache aufmerksamer Übung, die Auffassung des ganzen grossartigen, mehr im Sinfonie-Styl gehaltenen ersten Satzes entwickelt sich bei oftmaligen [sic] Spielen, nachdem es bereits richtig im gehörigen Zeitmaass einstudiert worden.“[21]
Czerny fand zwar auch, dass im autographen „ungemein schnellen und feurigen Tempo“ eine besondere Schwierigkeit läge, doch behauptete er zugleich, dass sich eine angemessene Auffassung des Stückes überhaupt erst vor dem Hintergrund des „gehörigen Zeitmaßes“ ergebe.
Von Czerny abgesehen wurde die Metronomzahl seit Ignaz Moscheles (1841) für zu hoch erachtet, und zwar in zunehmendem Maße mehr. Moscheles empfahl Halbe = 116[22], Hans von Bülow (1873)[23] und mit ihm Eugen d’Albert (1902)[24], Alfredo Casella (1920)[25] und Frederic Lamond (1923)[26] rieten zu 112. Bülow kommentierte seine Entscheidung ausführlich in einer Fußnote der Notenedition:
„Mit der wesentlich auf den Charakter des Hauptmotivs treffenden Metronomisirung befindet sich der Herausgeber in einem erheblichen Widerspruche gegen die Angabe Carl Czerny’s (Kunst des Vortrags, IV. Theil der Pianoforteschule Op. 500) der in seiner Eigenschaft als erster und zeitgenössischer Interpret der späteren Klavierwerke Beethovens als eine, freilich nicht durchgängig unfehlbare, Autorität consultirt zu werden verdient. Das Czernysche Tempo * = 138, das zu der wuchtigen Energie des Thema [sic] so wenig stimmt und selbst für die einer grösseren Beschleunigung fähigen Abschnitte dieses Satzes zu rasch gegriffen erscheint, findet vielleicht in der Klanglosigkeit der damaligen Wiener Klaviere eine Art Rechtfertigung. Auf einem heutigen Conzertflügel erster Qualität und ein solcher, (gewissermaßen ein Orchestersurrogat) wird zu angemessener Ausführung dieser Sonate erfordert, würde das Czernysche Tempo verwirrend und verwischend wirken.“[27]
Bülow erachtete das bei Czerny mitgeteilte Tempo in jedem Falle als zu schnell, vor allem jedoch im Hinblick auf die „wuchtige Energie“ des Hauptthemas. Als möglichen Grund für das zu rasche Tempo nannte er die „Klanglosigkeit der damaligen Wiener Klaviere“, zog überhaupt aber auch die Autorität Czernys in Zweifel. Carl Friedberg (1920)[28] riet dann zu Halben = 104, Samuil Feinberg[29] und mit ihm William Newman (1971)[30] zu 96, bestenfalls 100, bevor Donald Francis Tovey (1931)[31] mit 80–92 schließlich das Tempo erreichte, das Weingartner (1926) auch für seine Orchesterfassung empfahl.
Obwohl sich die Tempoangabe Halbe = 138 in beiden Erstausgaben des Werkes fand (in der Wiener wie der Londoner) und obwohl seit Erscheinen der Biographischen Notizen über Ludwig van Beethoven von Franz Gerhard Wegeler und Ferdinand Ries 1838 der Brief Beethovens an Ries mit den entsprechenden Metronomzahlen[32] allseits bekannt war, führte die alte Beethoven-Gesamtausgabe (1862–1865)[33] bei der Hammerklaviersonate keine Metronomzahlen an. Und Hans von Bülow (1873; siehe das Zitat oben) ging ganz offensichtlich davon aus, dass sie auf Carl Czerny zurückgingen (eine Ansicht, die unerklärlicherweise noch 1966 von dem einflussreichen sowjetischen Pianisten und Klavierpädagogen Alexander Goldenweiser wiederholt wurde sowie 1970 von dem Beethoven-Forscher Martin Cooper[34]). Es war Carl Reinecke, der in seiner viel gelesenen, in mehreren Auflagen verbreiteten Studie Die Beethoven’schen Clavier-Sonaten (1897) dann endgültig noch einmal klarstellte, dass die Metronomangaben von Beethoven selbst stammten, wenngleich auch Reinecke die für den ersten Satz als zu schnell erachtete:
„B[eethoven] selbst hat das Tempo des Allegro mit * = 138 M.M. bezeichnet, doch wird wohl ein Jeder sich fragen, ob nicht der grossartige Charakter des Satzes bei etwas mässigerem Tempo besser zur Geltung komme.“[35]
Am Ende der Erläuterungen zum Kopfsatz schließt Reinecke sich übrigens Robert Schumann an, der einem Schüler nach Absolvierung dieses Satzes einst gesagt habe: „‚Das müssten Sie einmal von Clara hören.‘“[36] Man darf vielleicht also davon ausgehen, dass auch Clara Schumann, eine der ersten bedeutenden Interpretinnen des Werkes, den Satz nicht in der originalen Metronomisierung spielte, zumal ihr Schüler Carl Friedberg in seiner Edition auch nur Halbe = 104 nennt (siehe oben).
In den Ausgaben seit ca. 1910, die sich mehr und mehr als ‚Urtextausgaben‘ verstanden, wurde die Zahl 138 dann immer häufiger genannt – unkritisiert, aber auch unkommentiert. Artur Schnabel schließlich wies in seiner Edition (1924–1927)[37] noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass sie auf Beethoven selbst zurückgehe, und er spielte – was noch folgenreicher war – den Satz 1935 dann auch in diesem Tempo ein (vgl. Abbildung 5).
An der vorherrschenden Meinung, dass das Tempo verfehlt sei, änderte sich dadurch gleichwohl nichts – im Gegenteil, es bestärkte viele noch in ihrer Meinung. Edwin Fischer[38], Hermann Keller[39], Claudio Arrau[40], Samuil Feinberg[41], Rudolf Serkin[42], William Newman[43], Martin Cooper[44], Svjatoslav Richter[45] und Alfred Brendel[46] hielten das Tempo gleichermaßen für zu schnell, manche expressis verbis unter Hinweis auf die „distressingly hectic“ (Newman), „totally unacceptable recording“ (Richter) von Schnabel. Als Grund für die Ablehnung des raschen Tempos wurde in der Regel generell auf Verständlichkeit, Sinn und Charakter verwiesen (Fischer, Keller, Serkin, Brendel), immer wieder aber auch ganz spezifisch auf den „erhabenen Charakter“ (Feinberg) sowie die „Majestät“ (Arrau). Vor allem Brendel wies mehrfach auf die schiere pianistische Nicht-Realisierbarkeit hin. 1976 schrieb er: „Das vorgeschriebene Tempo des ersten Satzes zumal ist von keinem Spieler, und sei es der Teufel persönlich, auf irgendeinem Flügel der Welt auch nur annähernd zu bewältigen.“[47] 29 Jahre später wiederholte er seine Behauptung mit leicht verändertem Wortlaut: „Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der den ersten Satz der Hammerklavier-Sonate im Tempo 138 diskutabel spielen kann.“[48]
Ein allmählicher Sinneswandel ist trotz allem seit 1970 zu bemerken (auf den zumal Brendel in seinen zitierten Bemerkungen bereits reagiert). Es mehren sich die Stimmen, die das Tempo doch für realisierbar halten oder zumindest für annähernd realisierbar, und die darauf verweisen, dass dem Werk aus dem rascheren Tempo ein ganz anderer und sehr viel angemessenerer Charakter erwachse. Charles Rosen wendet sich in seiner einflussreichen Studie über den klassischen Stil aus dem Jahre 1971 expressis verbis gegen den Maestoso-Charakter des ersten Satzes und plädiert für eine „Rauheit“ des Stückes sowie für rhythmische Vitalität. Nur in dieser erkennt er überhaupt den „Ruf als Meisterwerk“ gerechtfertigt. Verständnisschwierigkeiten des Hörers hält er dagegen für kein besonderes Problem.
„Ein majestätischer Klangcharakter, gewissermaßen ein Allegro maestoso, läßt sich weder musikalisch, noch vom Notentext her rechtfertigen, er übt Verrat an der Musik. Trotzdem wird er ihr häufig aufgezwungen, weil er die Rauheit des Stückes mildert, – aber diese Rauheit ist ihm wesentlich! Ein breites Tempo untergräbt auch die rhythmische Vielfalt, von der das Stück lebt. Wie wir sahen, ist das eigentliche Material des Werkes weder reichhaltig noch besonders ausdrucksvoll. Es wird seinem Ruf als Meisterwerk nur gerecht, wenn man seine rhythmische Kraft aufs höchste konzentriert. Daß es schwierig anzuhören ist, lag durchaus in Beethovens Absicht.“[49]
Im selben Jahr weist Paul Badura-Skoda in einem Führer durch die Klaviersonaten Beethovens die Vorstellung zurück, dass die Hammerklaviersonate die 9. Symphonie aufs Klavier übertragen sei.[50] In seinem Kommentar zu den von ihm herausgegebenen Vortragsanweisungen Carl Czernys zu den Beethoven’schen Klavierwerken 1963 hatte er zwar auch angemerkt, dass „in Beethovens Tempi, vor allem im 1. und 3. Satz“, „eine vernünftige Artikulation nicht mehr möglich“ sei. Doch empfahl er, lediglich 10–15% von den Originaltempi abzuziehen, was für den ersten Satz immer noch ein vergleichsweise rasches Tempo von ca. 120 bedeuten würde – ungefähr das Tempo von Friedrich Gulda.[51]
Joachim Kaiser greift 1975 Badura-Skodas Kritik an der Vorstellung der Hammerklaviersonate als der 9. Symphonie auf dem Klavier auf, um dann vor allem auszuführen, dass die enormen technischen Schwierigkeiten bei der pianistischen Realisierung unabdingbar zur ästhetischen Substanz der Sonate gehörten, eine mühelose Bewältigung also gar nicht wünschenswert wäre.
„Die Beinahe-Unmöglichkeit, die Riesen-Anspannung und Anstrengung eines Interpreten gehört hier wahrlich zur Sache.“[52]
„Beinahe unerreichliche Tempi, die den äußersten riskantesten Einsatz erzwingen, sind in dieser Sonate nicht Sache freier Wahl, sondern von Beethoven vorgeschrieben.“[53]
Auch Kaiser hält Beethovens Metronom-Forderungen für annähernd ausführbar, und zwar musikalisch sinnvoll ausführbar. Dabei wendet er sich gegen die (u.a. auch von Edwin Fischer vertretene) Ansicht, dass
„der Beginn des ersten Satzes eine unausgeführte Huldigungskantate auf den Widmungsträger der Hammerklaviersonate, den Erzherzog Rudolph von Österreich, zitiere („Vivat vivat Rudolfus“), weshalb dieser Allegro-Satz im Huldigungskantaten-Tempo zu spielen sei.“[54]
Und er richtet sich gegen die Behauptung Hans von Bülows, nach der nur die „Klanglosigkeit der damaligen Wiener Klaviere“ die damals gegebenen Metronomisierungen rechtferigte.
In seinem Buch Beethoven’s Piano Sonatas. A Short Companion wiederholt Charles Rosen 2002 rhetorisch pointiert noch einmal seine Position von 1971. Es wäre an der Zeit, sich von der Vorstellung der Hammerklaviersonate als „Mammut“ bzw. „Pyramide“ freizumachen. Der erste Satz sei nicht „majestätisch“; er sei kein Fest- oder Erinnerungsstück, sondern eine „Energie-Explosion“.
„In any case, I think we ought to abandon the view of this work as a kind of musical mammoth, or a construction comparable to the larger pyramids. […] There is no reason to think that the first movement is majestic; that would go against the grain of most of it. It is not a commemorative work. More than anything else, it is an explosion of energy.“[55]
Insgesamt setzte sich seit den 1970er Jahren zunehmend die Überzeugung durch, dass es kaum angehe, die einzige existierende Metronomzahl für eine Klaviersonate Beethovens so rundheraus zu ignorieren (Rainer Riehn 1979[56], Robert Taub 2002[57]). Inzwischen begegnen Aussagen dieser Art selbst bei Pianisten, deren Spiel der Hammerklaviersonate sie eigentlich nicht erwarten lassen würde. So pflichtet András Schiff in einem Gespräch mit Martin Meyer 2007 diesem mit allem Nachdruck bei, „dass einseitig-monumentalisierendes Vortragen das wahre Bild der Sonate verzerrt“ habe. Schiff empfiehlt „das von Beethoven mit Metronom-Zahlen präzisierte Zeitmaß“ als „Gegengift“ und gelangt zu dem Schluss: „Wer die Halben auf 138 nimmt, bietet sich selbst und den Zuhörern die Gelegenheit, den Kopfsatz auch in seiner tänzerischen, rhythmisch geladenen Präsenz auszuforschen.“[58] In seiner Aufnahme spielt Schiff den ersten Satz in einem mittleren Tempo von Halbe = 104,4 (vgl. Abbildung 5).
6. Tempobefunde
a. Bandbreite mittlerer Tempi
Abbildung 6: Spieldauern Appassionata
Beginnen wir unsere vergleichende Betrachtung der Tempodaten zu allen drei Sonaten mit einem Blick auf die Bandbreite der realisierten mittleren Tempi bzw. Spieldauern. In der Appassionata (siehe Abbildung 6) beträgt die Differenz zwischen der schnellsten und der langsamsten Einspielung unglaubliche 7:20 Minuten zwischen der Aufnahme von Friedrich Gulda und jener von Glenn Gould, beide aus dem Jahr 1967, Erstere ziemlich genau doppelt so schnell wie Letztere. Sieht man einmal von diesen beiden Aufnahmen ab, so beträgt die Differenz noch 3:39 zwischen Frederic Lamond (1927) und Svjatoslav Richter (1992).
Abbildung 7: Spieldauern Sonate op. 2/3 (ohne Wiederholung der Exposition)
Bei der Sonate op. 2/3 (siehe Abbildung 7) ist der Unterschied zwischen der schnellsten und der langsamsten Einspielung deutlich geringer. Hier beträgt er nur 2:01 Minuten zwischen Maurizio Pollini (2006) und Claudio Arrau (1986) bzw., sieht man wiederum von diesen beiden Aufnahmen ab, 1:36 zwischen Emil Gilels (1952) und Josef Hofmann (1929).
Abbildung 8: Spieldauern Hammerklaviersonate (mit Ritardando- und Fermatentakten, ohne Wiederholung der Exposition)
Bei der Hammerklaviersonate (siehe Abbildung 8) ist die Differenz dann wieder größer. Einschließlich aller Takte beträgt sie 4:14 Minuten zwischen Artur Schnabel (1935) und Glenn Gould (1970) bzw. unter Auslassung dieser beiden Aufnahmen immer noch 4:06 zwischen Walter Gieseking (1949) und Tatjana Nikolajewa (1983).
Berücksichtigt man jeweils sämtliche Einspielungen, so ist die Bandbreite der mittleren Tempi in der Appassionata am größten, sieht man dagegen von den schnellsten und langsamsten Aufnahmen ab, so in der Hammerklaviersonate. (Zur Interpretation dieser Befunde siehe Kapitel 7a.)
b. Geschichte des mittleren Tempos
Abbildung 9: Spieldauer und Aufnahmejahr Appassionata
Was die Geschichte des mittleren Tempos betrifft, so hat es sich in der Appassionata von den 1920er bis in die 1990er Jahre kontinuierlich verlangsamt, und zwar um mehr als 2 Minuten von unter 8 Minuten in den 1920er auf über 10 Minuten in den 1990er Jahren. In den 2000er Jahren hat es sich dann wieder auf das Tempo der 1960er und 1970er Jahre beschleunigt, das freilich immer noch um einiges langsamer war als in den vier Jahrzehnten davor. In Abbildung 9 sind auf der x-Achse die Aufnahmejahre aufgetragen, auf der y-Achse die Spieldauer in Minuten. Die kleinen Kreise zeigen die einzelnen Aufnahmen, die unausgefüllten Kreise symbolisieren Aufnahmen, bei denen nur das Jahrzehnt der Aufnahme bekannt ist. Die graue Gerade zeigt die Spieldauernentwicklung in statistisch vergröberter Form, R2- und p-Werte (Bestimmtheitsmaß und Signifikanzwert, ‚p‘ von ‚probability‘) sind die statistischen Kennwerte des Zusammenhangs. Die horizontalen gestrichelten Linien geben die mittleren Werte pro Jahrzehnt wieder.
Abbildung 10: Spieldauer und Aufnahmejahr Sonate op. 2/3 (ohne Wiederholung der Exposition)
In der Sonate op. 2/3 (siehe Abbildung 10) ist das Tempo von den 1920er bis in die 2000er Jahre insgesamt konstant geblieben, auch wenn es sich gleichfalls zwischen den 1950er und den 1980er Jahren minimal verlangsamt hat (um knapp eine halbe Minute).
Abbildung 11: Spieldauer und Aufnahmejahr Hammerklaviersonate (ohne Wiederholung der Exposition)
In der Hammerklaviersonate (siehe Abbildung 11) hat sich das Tempo von den 1950er bis in die 1980er Jahre ebenso verlangsamt – um ziemlich genau 1 Minute von 8 auf 9 Minuten –, um sich in den 1990er und 2000er Jahren dann wieder zu beschleunigen, in den 2000er Jahren auf ein Tempo, das das der 1950er Jahre noch überschreitet. (Im Unterschied zur Appassionata zeigt die Regressionsgerade hier auch einen Tempoanstieg über den gesamten Zeitraum, nur ist er hier nicht signifikant.) Über die 1930er und 1940er Jahre lassen sich mit jeweils einer einzigen Aufnahme keine allgemeineren Aussagen treffen; angesichts der fortwährenden Klagen über die zu hohe autographe Metronomzahl (siehe Kapitel 5) ist nicht davon auszugehen, dass die Tempi Schnabels (1935) und Giesekings (1949) repräsentativ für ihre Jahrzehnte waren. (Zur Interpretation dieser Befunde siehe Kapitel 7b.)
c. Tempo, Temposchwankungen und Tempoamplitude: deutsch-österreichische und russisch-sowjetische Pianisten
Was die Kategorien Temposchwankungen von Takt zu Takt und Tempoamplitude angeht, so ergaben sich hinsichtlich der Bandbreite wie auch der Geschichte wider Erwarten kaum nennenswerte Befunde. Stattdessen zeigte sich bei der Appassionata und der Hammerklaviersonate eine deutliche Differenz zwischen den deutsch-österreichischen und den russisch-sowjetischen Einspielungen. Abbildungen 12–15 demonstrieren, dass die Pianisten aus Russland bzw. der Sowjetunion zu Interpretationen mit einer größeren Tempoamplitude[59] und größeren Temposchwankungen tendieren als die Pianisten aus Deutschland und Österreich. In sämtlichen Aufstellungen versammeln sich die russisch-sowjetischen Pianisten, deren Namen hellgrau unterlegt sind, eher im oberen Bereich, die deutschen und österreichischen Pianisten, deren Namen dunkelgrau unterlegt sind, im unteren.
Abbildung 12: Tempoamplitude Appassionata
Abbildung 13: Tempoamplitude Hammerklaviersonate
Abbildung 14: Mittlere Temposchwankungen von Takt zu Takt in Prozent Appassionata
Abbildung 15: Mittlere Temposchwankungen von Takt zu Takt in Prozent Hammerklaviersonate
Nimmt man pro Sonate jeweils sämtliche untersuchten Aufnahmen in den Blick, so zeigt sich, dass bei der Appassionata die Aufnahmen der russisch-sowjetischen Pianisten eine mittlere Tempoamplitude von 1,96 aufweisen, die der deutsch-österreichischen Pianisten eine von 1,6. Bei der Hammerklaviersonate weisen die Einspielungen der russisch-sowjetischen Pianisten eine Tempoamplitude von 1,84 auf, diejenigen der deutsch-österreichischen eine von 1,65. Was die Temposchwankungen betrifft, so schwanken die russisch-sowjetischen Pianisten in der Appassionata im Mittel um 8,27, die deutsch-österreichischen um 6,48%. In der Hammerklaviersonate schwanken die russisch-sowjetischen Pianisten, rechnet man die Ritardando- und Fermatentakte heraus, um 8,2%, die deutsch-österreichischen um 7,2%.[60]
Nachdem sich bezüglich Tempoamplitude und Temposchwankungen bei diesen beiden Sonaten eine erkennbare Differenz zwischen deutsch-österreichischen und russisch-sowjetischen Interpreten ergab, haben wir die Frage entsprechend auch an die Spieldauer bzw. das mittlere Tempo gerichtet. Hier zeigte sich nun, dass die russisch-sowjetischen Pianisten im Durchschnitt um einiges langsamer sind als die deutsch-österreichischen. Bei der Appassionata spielen sie die punktierten Viertel in einem mittleren Tempo von 105,0, die deutsch-österreichischen von 115,9; bei der Hammerklaviersonate die Halben im Mittel von 92,4, Letztere von 102,7. Abbildungen 16 und 17 zeigen jeweils die gemittelten Tempokurven der deutsch-österreichischen und der russisch-sowjetischen Einspielungen der Appassionata und der Hammerklaviersonate.
Abbildung 16: Mittlere Tempokurven russisch-sowjetischer und deutsch-österreichischer Pianisten Appassionata
Abbildung 17: Mittlere Tempokurven russisch-sowjetischer und deutsch-österreichischer Pianisten Hammerklaviersonate
In der Sonate op. 2/3 gibt es all diese Differenzen nicht. Die russisch-sowjetischen Pianisten sind nur minimal langsamer, sie spielen in einem mittleren Tempo von 136,1 statt 139, 3, und was Temposchwankungen und Tempoamplitude angeht, so gibt es überhaupt keine Unterschiede. Abbildung 18 zeigt die gemittelten Tempokurven zu op. 2/3.
Abbildung 18: Mittlere Tempokurven russisch-sowjetischer und deutsch-österreichischer Pianisten Sonate op. 2/3
7. Tempointerpretationen
a. Bandbreite mittlerer Tempi
Worauf die unterschiedlichen Tempo-Bandbreiten in den drei Sonaten beruhen, ist natürlich eine hochkomplexe und gar nicht leicht zu beantwortende Frage. Wir wollen es hier auch nur sehr vorläufig und in aller Kürze versuchen.
Die extreme Bandbreite in der Tempowahl bei der Appassionata (vgl. Abbildung 6) dürfte das Ergebnis einer kritischen bzw. dadaistischen Provokation sein. Die allerschnellste und die allerlangsamste Aufnahme stammen beide aus dem Jahre 1967. Friedrich Gulda sollte zwei Jahre später den Beethovenring der Wiener Musikakademie ablehnen mit der Begründung, dass eine so konservative Institution überhaupt nicht berechtigt sei, einen Preis zu verleihen, der den Namen des größten musikalischen Revolutionärs trage.[61] Umgekehrt verfasste Glenn Gould zu seiner Appassionata-Einspielung einen Schallplattentext, in dem er gerade dieses bei Publikum wie bei Musikern und Musikwissenschaftlern so angesehene Werk als missglückt verwarf: Es sei im Ton so überzogen wie in der Substanz dürftig.[62] Bei beiden Interpreten erscheinen die extremen Spieldauern als Ausdruck einer Art Appassionata-Krise im Kontext der ideologiekritischen Tendenzen am Ende der 1960er Jahre. Goulds Einspielung ‚in Zeitlupe‘ zielt auf eine Polemik gegen den ‚heroischen Stil‘ – wobei offenbleibt, ob das langsame Tempo die angeblich dürftige Substanz verbergen oder gerade hervorkehren soll –, die Aufnahme Guldas, die noch einmal eine ganze Minute schneller ist als seine Einspielung aus dem Jahre 1958, hypostasiert den Revolutionär aller Revolutionäre.
Sieht man einmal von diesen beiden extremen Aufnahmen ab, so dürfte die immer noch große Bandbreite in der Tempowahl auch sonst eine Funktion der Prominenz und großen Verbreitung des Werkes sein. Im Bestreben nach Originalität oder Charakteristik im Angesicht so vieler bereits existierender Interpretationen boten sich eben auch extreme Tempoentscheidungen an. Und das bei einem Notentext, der unterschiedliche Tempi ja auch nahelegt. Bereits Carl Czerny wich in seiner Metronomisierung des Satzes 1850 von der aus dem Jahre 1842 stärker ab, als er es in anderen Fällen tat (punktierte Viertel = 120 statt 108).[63] Und während Czerny wie die meisten Interpreten nach ihm sich in ihren Tempoangaben stets auf die punktierte Viertel für die Tempobezeichnung Allegro assai bezogen, wies Grigorij Kogan darauf hin, dass die Taktvorzeichnung genau genommen in Achteln stehe (12/8).[64] Anhänger wie Gegner einer schnellen Temponahme haben jeweils gute Argumente auf ihrer Seite.
Die vergleichsweise enge Bandbreite in der Tempowahl bei der Sonate op. 2/3 (vgl. Abbildung 7) dürfte umgekehrt sowohl daran liegen, dass das Werk nicht so herausfordernd prominent ist, als auch, dass es in seinem virtuosen und zugleich klassischen Gestus ein bestimmtes Tempo nahelegt, das unbedingt rasch sein muss, dann aber auch wieder nicht zu rasch.
Die Bandbreite an Tempi in der Hammerklaviersonate (vgl. Abbildung 8), die noch über die der Appassionata – sieht man einmal von den provozierenden Extremen bei Gould und Gulda ab – hinausgeht, beruht fraglos auf der Differenz zwischen dem vielfach als „wuchtig“ (Hans von Bülow), „erhaben“ (Samuil Feinberg) und „majestätisch“ (Claudio Arrau) empfundenen Charakter der Musik in einem orchestralen Klaviersatz (siehe Kapitel 5) und der mit exorbitanten technischen Schwierigkeiten verbundenen raschen Metronomisierung Beethovens, für die man schließlich auch eine alternative ästhetische Zuschreibung fand: als im wesentlichen rhythmisch bestimmte „Energie-Explosion“ (Charles Rosen).
b. Geschichte des mittleren Tempos
Es gibt etwas, das die Tempogeschichten aller drei Sonaten miteinander verbindet: eine Verlangsamung des Tempos zwischen den 1950er und den 1980er bzw. 1990er Jahren sowie eine Beschleunigung in den Jahrzehnten danach. Da von diesem Befund auch noch die B-Dur-Sonate D. 960 von Franz Schubert betroffen ist, deren Tempo einer unserer Studenten am Beispiel von 50 Aufnahmen untersucht hat[65], liegt es vorläufig nahe, darin eine allgemeinere Tendenz zu sehen.[66]
Der Sachverhalt erscheint bemerkenswert im Rahmen der immer wieder diskutierten Frage, ob sich das Tempo im Verlauf längerer Zeiträume beschleunigt hat, verlangsamt oder gleich geblieben ist. Ist Ersteres eine Ansicht, die Adolf Bernhard Marx[67], Theodor W. Adorno[68] und Grete Wehmeyer[69] gleichermaßen vertraten, so wurde eine Verlangsamung des Tempos im 20. Jahrhundert insbesondere von Robert Philip diagnostiziert[70], während Nicholas Temperly und José Bowen davon ausgingen, dass sich das Tempo summa summarum nicht verändert habe.[71] Nun differenzieren unsere Tempomessungen das Bild dahingehend, dass sich bei allen drei von uns untersuchten Werken für die Zeit seit 1950 ein ähnliches Bild ergibt – eine Tempoverlangsamung bis in die 1980er bzw. 1990er Jahre sowie eine anschließende Beschleunigung –, die Befunde für die Zeit davor jedoch divergieren: Bei der Appassionata sind die Aufnahmen der 1920er und 1930er Jahre noch rascher als die der 1950er, bei op. 2/3 sind sie langsamer.
Robert Philip hat die Tendenz einer Verlangsamung insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg mit der LP-Ära begründet: mit dem Anspruch technischer Perfektion bei Schallaufzeichnungen. Unseres Erachtens kämen mindestens drei weitere Faktoren hinzu. Wir werden sie hier nur ganz vorläufig und schlagwortartig zu umreißen versuchen – eine größere Studie zu dem Thema ist geplant.
Zu nennen wäre erstens eine wachsende Bedeutung der Kompositions- bzw. Werkästhetik, die vom Interpreten Unterordnung, ja ‚Dienerschaft‘ erwartete und die mit einer spezifisch antivirtuosen Attitüde verbunden war.
Zu nennen wäre zweitens eine wachsende Bedeutung der Strukturästhetik, die neben der Musik der Avantgarde und der musikalischen Analyse auch die musikalische Interpretation ergriff. Im Unterschied zur Ausdrucksästhetik fordert sie mehr Deutlichkeit im Spiel. Das Pathos der Strukturästhetik erfasste selbst einen Pianisten wie Claudio Arrau, der angesichts der Takte 14 und 15 der Appassionata, die immer als Inbegriff eines Gefühlsausbruchs gegolten hatten, von etwas „völlig Rhythmischem“ sprach.[72] Arraus Appassionata-Einspielungen von 1965 und 1984 markierten, sieht man einmal von der Aufnahme Glenn Goulds ab, jeweils einen neuen Langsamkeitsrekord im Appassionata-Diskurs der 1960er bis 1980er Jahre (dazu gleich mehr).
Drittens scheint sich in den 1980er Jahren im Zuge der Öko- und Friedensbewegung unter dem Stichwort ‚Entschleunigung‘ so etwas wie ein Kult der Langsamkeit herausgebildet zu haben. Die 1980er Jahre waren nicht nur die, in denen Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit erschien (1983) und zum Bestseller wurde, in die 1980er Jahre fallen auch die Diskussionen um eine mögliche Halbierung des Tempos in den raschen Sätzen der Werke Beethovens: 1980 erschien Willem Retze Talsmas Wiedergeburt der Klassiker, Band 1: Anleitung zur Entmechanisierung der Musik[73], 1989 das oben bereits erwähnte Buch von Grete Wehmeyer, Prestißißimo. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit in der Musik.[74]
Ab den 1990er Jahren ist demgegenüber dann wieder eine neue Hinwendung zur Expressivität wie zur Virtuosität zu erkennen, motiviert nicht zuletzt durch die historisch informierte Aufführungspraxis, die jenseits einer verstärkten Berücksichtigung originaler Metronomzahlen von der Annahme ausging, dass die Komponisten der Klassik sehr viel stärker durch die Ästhetik der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang geprägt waren und auch dem Phänomen der Virtuosität weitaus positiver gegenüberstanden als zuvor gedacht.
Die besondere kontinuierliche Verlangsamung der Appassionata (vgl. Abbildung 9) dürfte zudem eine Funktion der langen Interpretationsgeschichte eines Klassik-Hits sein, die zunächst von raschen Tempi ausging. Die Orientierung an raschen Tempi dokumentieren nicht nur die Aufnahmen der 1920er und 1930er Jahre, sondern auch die Interpretationsausgaben seit den 1870er Jahren (Hans von Bülow und Frederic Lamond empfahlen für die punktierte Viertel 126, Eugen d’Albert und Artur Schnabel 120). Wer seit den 1950er Jahren originell sein wollte in der Tempowahl, der musste langsam spielen. Seit den 1960er Jahren scheint geradezu ein Wettbewerb um die langsamste Appassionata eingesetzt zu haben: Svjatoslav Richter (1959) M.M. 103,9 bzw. 10:00 Min., Richter (1960) M.M. 98,9 bzw. 10:31, Claudio Arrau (1965) M.M. 95,5 bzw. 10:53, [Glenn Gould (1967) M.M. 71,1 bzw. 14:38,] Emil Gilels (1975) M.M. 95,9 bzw. 10:50, Claudio Arrau (1984) M.M. 92,9 bzw. 11:13, Richter (1992) M.M. 90,7 bzw. 11:28, Tatjana Nikolajewa (1993) M.M. 93,1 bzw. 11:10.
Pianist | Richter (1959) | Richter (1960) | Arrau (1965) | Gilels (1975) | Arrau (1984) | Richter (1992) | Nikolajewa (1993) |
BPM / M.M. | 103,9 | 98,9 | 95,5 | 95,9 | 92,9 | 90,7 | 93,1 |
Dauer in Minuten | 10:00 | 10:31 | 10:53 | 10:50 | 11:13 | 11:28 | 11:10 |
Worauf die enorme Beschleunigung des Tempos in der Hammerklaviersonate (vgl. Abbildung 11) in den 1990er und 2000er Jahren jenseits der oben skizzierten ‚Zeitgeist‘-Phänomene genau beruht, ist gleichfalls nicht ganz leicht zu sagen.
1. Auch wenn die Interpretationen von Repräsentanten der historisch informierten Aufführungspraxis keineswegs zu den schnellsten gehören – die von uns untersuchten liegen bei 115,9 (Badura-Skoda 1978) und 108,7 (Brautigam 2008) –, so dürfte dennoch ein genereller Einfluss der historischen Aufführungspraxis, die die Metronomzahlen Beethovens erneut in den Blick nahm und mit ihrer Realisierung noch entschiedener Ernst zu machen versuchte als alle ‚Urtext‘-Bewegungen zuvor, gerade bei der Hammerklaviersonate anzunehmen sein, war deren autographe Metronomisierung doch der sprechendste Beleg für die einstmals so raschen Tempi.
2. Dann war bei der Hammerklaviersonate noch immer die Herausforderung aktuell – da bisher selten oder kaum zufriedenstellend bewältigt –, das Werk in möglichst raschem Tempo überzeugend darzubieten. Originalität, ja Einzigartigkeit, konnte hier nach wie vor in einer glänzenden Darbietung des Werkes im autographen Tempo bestehen. Und man darf gewiss davon ausgehen, dass auch die wiederholte Behauptung Brendels – den alle kennen und gelesen haben –, es gebe „keinen Menschen auf der Welt, der den ersten Satz der Hammerklavier-Sonate im Tempo 138 diskutabel spielen kann“[75], für die jungen, ehrgeizigen Pianisten eine Provokation der ganz besonderen Art darstellte.
3. Kaum sicher zu sagen ist dagegen, in welchem Maße die in Kapitel 5 skizzierten neuen Tendenzen um 1970, die insbesondere in den Texten von Charles Rosen und Joachim Kaiser zum Ausdruck kamen, Einfluss auf die Tempogeschichte des Werkes genommen haben. Diesen neuen Tendenzen wohnt übrigens auch der kulturkritische Geist der 1968er Jahre – ein Moment des Bilderstürmerischen – inne: bei Rosen, wenn er den „majestätischen“ Charakter des ersten Satzes zurückweist, seine „Rauheit“ akzentuiert sowie im übrigen den Status des „Meisterwerks“ relativiert und Verständnisschwierigkeiten der Hörer bagatellisiert; bei Kaiser, wenn er sich über das „Huldigungskantaten-Tempo“ lustig macht und technische Schwierigkeiten als integralen Bestandteil des Werkes ausweist. In den Argumentationen Rosens wie Kaisers verschränken sich ideologiekritische Momente mit Denkfiguren der damaligen Avantgarde-Diskussion. Muss man, was den Einfluss dieser neuen Tendenzen um 1970 angeht, in jedem Falle konstatieren, dass sie sich nicht gleich niederschlugen – zunächst einmal verlangsamte sich das Tempo ja weiterhin –, so ist dennoch davon auszugehen, dass sie langfristig ihre Wirkung nicht verfehlten: Die beiden genannten Publikationen von Rosen und Kaiser zählen zu den meistgelesenen Büchern gerade auch von ausübenden Musikern, und Spuren ihrer Argumentationsmuster finden sich in zahlreichen Texten jüngeren Datums.
c. Tempo, Temposchwankungen und Tempoamplitude: deutsch-österreichische und russisch-sowjetische Tradition
Ein Unterschied zwischen deutsch-österreichischen und russisch-sowjetischen Auffassungen wurde vom musikalischen Feuilleton immer wieder postuliert. Da war andauernd die Rede vom ‚deutschen Beethovenspieler‘ auf der einen Seite und der ‚russischen Pranke‘ oder ‚Seele‘, je nachdem, auf der anderen. Hinsichtlich des Tempos wurde eine Differenz zwischen russisch-sowjetischen und anderen Interpreten von José Bowen gerade nicht bestätigt.[76] Unsere Tempomessungen dagegen bestätigen die Annahme für die Appassionata und die Hammerklaviersonate (und übrigens auch für Schuberts B-Dur-Sonate D. 960[77]), nicht jedoch für die Sonate op. 2/3 (vgl. Abbildungen 16–18).
Könnte man nun versucht sein, mit dem spezifisch klassisch-virtuosen Gestus von op. 2/3, der ja auch sonst kaum Tempospielräume zulässt, eine Ausnahme von der Regel zu postulieren, so scheint unsere Quellenbasis einfach zu begrenzt zu sein, um eine verallgemeinernde These wagen zu wollen. Zumal Gründe nicht auf der Hand liegen. Sollten weitere Tempomessungen den Befund indes erhärten, so wäre der Versuch einer sachlichen Fundierung – jenseits der Topoi von ‚deutschem Gehorsam‘ und ‚russischer Seele‘ – eine der vornehmsten Herausforderungen einer Kulturgeschichte der Interpretation.
8. So machen’s alle
Großformal gibt es in allen drei untersuchten Sätzen Tempoentscheidungen, auf die sich erstaunlich viele Pianisten einigen können. Wir wollen uns das jeweils an den gemittelten Tempokurven sämtlicher Aufnahmen vergegenwärtigen, auch wenn sie manchmal nicht das zeigen, was alle Pianisten machen, sondern lediglich das, was sich ergibt, wenn man alle Differenzen herausmittelt. Um zu wissen, was jeder Pianist im Einzelnen tut, muss man – und wir haben das getan – jede Tempokurve sowie die dazugehörigen Tempowerte im Einzelnen betrachten und miteinander vergleichen. An den gemittelten Tempokurven stellen wir lediglich die Ergebnisse dieser Untersuchungen dar.
Abbildung 19: Mittlere Tempokurve sämtlicher 50 Aufnahmen Appassionata
Die größte Einigkeit herrscht bei der Appassionata (siehe Abbildung 19). Charakteristisch für sämtliche Aufnahmen ist ein Tempoplan mit beschleunigter Überleitung und wieder verlangsamtem Seitensatz innerhalb der Exposition sowie je ein bis zwei großen Accelerandopartien in Durchführung (T. 79ff., T. 113ff.) und Coda (T. 210ff.), bevor das Più Allegro, wie es der Beethoven‘sche Notentext fordert, noch einmal schneller ist. Diesem Tempoplan folgen tatsächlich alle Pianisten ausnahmslos. Die Mehrzahl der Pianisten spielt zudem die Schlussgruppe schneller als den Seitensatz. Und sie nimmt den Anfang der Reprise zügiger als den Expositionsbeginn. Was die Temporelation von Haupt- und Seitensatz angeht, so spielen die meisten Pianisten Letzteren so schnell wie Ersteren oder noch schneller.[78]
Abgesehen von den Temporelationen zwischen Haupt- und Seitensatz sowie zwischen Expositions- und Reprisenbeginn entsprechen alle Details des Tempoplans den Empfehlungen der Interpretationsausgaben (Bülow, d’Albert, Lamond und Schnabel). Für den Reprisenbeginn dagegen empfehlen die Interpretationsausgaben dasselbe Tempo wie für den Anfang der Exposition, für den Seitensatz raten sie zu einem langsameren Tempo als für den Hauptsatz. Was den Widerspruch zwischen dem tatsächlichen Spiel und den Empfehlungen der Interpretationsausgaben bei der Tempowahl von Haupt- und Seitensatz sowie von Expositions- und Reprisenbeginn angeht, siehe Kapitel 10 „Artur Schnabel gegen sich selbst“.
Abbildung 20: Mittlere Tempokurve sämtlicher 45 Aufnahmen Sonate op. 2/3
Auch für op. 2/3 lässt sich ein Tempoplan rekonstruieren, dem alle Pianisten folgen (siehe Abbildung 20). In der Exposition ist es der regelmäßige Tempowechsel zwischen thematisch gebundenen bzw. kantablen und thematisch ungebundenen bzw. virtuosen Partien. Sämtliche Pianisten ausnahmslos – und seien die Differenzen zuweilen auch gering – spielen die Hauptgedanken von Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe langsamer als die sich anschließenden Passagengruppen (T. 13ff., T. 61ff., T. 85ff.) bzw. die ‚munter-energische‘ Episode T. 39ff. Und bei allen Pianisten ausnahmslos ist die Durchführung durch zwei größere Beschleunigungspartien gekennzeichnet (T. 97ff., T. 113ff.), die Coda durch zwei Beschleunigungspartien mit einem starken Ritardando dazwischen (T. 237ff., T. 252ff.). Bei der Mehrzahl der Pianisten ist zudem innerhalb der Exposition der Anfang der Schlussgruppe der langsamste Abschnitt, die anschließende Passagengruppe der schnellste. Was die Temporelation von Haupt- und Seitensatz angeht, so spielen die meisten Pianisten Letzteren so schnell wie Ersteren oder schneller.[79]
In op. 2/3 ist ein Vergleich mit den Angaben in den Interpretationsausgaben weniger ergiebig als in der Appassionata, da die Bezeichnungen – wohl vor dem Hintergrund der damals verbreiteten Annahme, dass man den frühen Beethoven strenger im Tempo spielen müsse – deutlich skizzenhafter ausfallen. In der Cotta‘schen Ausgabe, in der Bülow die Sonaten ab op. 53 redigierte, gibt es in der von Sigmund Lebert bezeichneten Sonate op. 2/3 außer einer Tempoempfehlung zu Beginn des Satzes überhaupt keine Tempoangaben. In den Editionen von d’Albert, Lamond und Schnabel finden sich Hinweise auf die allgemeinen Tempogepflogenheiten lediglich einzeln verstreut. Begegnen zur Tempogestaltung in Durchführung und Coda gar keine Hinweise, so scheint es, als ob die Interpretationsausgaben innerhalb der Exposition durchaus von einer Alternation des Tempos zwischen thematisch gebundenen und virtuosen Partien bzw. der Episode T. 39ff. ausgehen. D’Albert überschreibt Letztere mit „animato“, die Passagengruppe nach dem Seitensatz (T. 61ff.) mit „brillante“. Lamond rät im Haupt- und Seitensatz zu einem Tempo von 132, in den Passagengruppen danach (T. 13ff., T. 61ff.) von 152. Schnabel empfiehlt generell ein Tempo von 152, bei der Episode T. 39ff. jedoch von 160. (Zu den spezifischen Differenzen zwischen den Ausgaben von Lamond und Schnabel siehe Kapitel 10.) Was die Temporelation von Haupt- und Seitensatz angeht, so existiert bei allen Differenzen im Detail dennoch ein gemeinsamer Nenner: Der Seitensatz soll nicht langsamer gespielt werden als der Hauptsatz. Lamond empfiehlt für beide jeweils dasselbe Tempo, d’Albert schreibt in einer Fußnote zum Seitensatz: „Es darf keine Verlangsamung des Tempos eintreten“[80], und Schnabel nimmt gar das beschleunigte Tempo der Episode T. 39ff. im Seitensatz nicht zurück.
Abbildung 21: Mittlere Tempokurve sämtlicher 45 Aufnahmen Hammerklaviersonate
In der Hammerklaviersonate (siehe Abbildung 21) fällt die Rekonstruktion eines gemeinsamen Tempoplanes bereits in den Aufnahmen deutlich schwerer als in den anderen beiden Sonaten. Das Einzige, worauf sich fast alle Pianisten einigen können, ist ein langsameres Tempo der Schlussgruppe gegenüber dem Seitensatz. In allen anderen Fragen gibt es überhaupt nur ‚Mehrheitsentscheidungen‘: so in der Gepflogenheit, den Seitensatz rascher zu nehmen als die Überleitung bzw. als den Hauptsatz, oder den zweiten Abschnitt des Seitensatzes (T. 75ff.) langsamer zu spielen als den ersten Abschnitt (T. 47ff.). Des weiteren nimmt die Mehrzahl der Interpreten wie in der Appassionata den Reprisenbeginn schneller als den Anfang der Exposition, und schließlich gibt es eine schwache Mehrheit auch in der Frage eines gleichen Tempos in Hauptsatz und Überleitung – eine Mehrheit, die angesichts des Sachverhalts, dass der Beethoven‘sche Notentext „a tempo“ fordert, jedoch eher gering anmutet.[81] Einen handfesten Dissens gibt es hinsichtlich der Tempowahl des Schlusses. Vergleicht man das Tempo des Schlusses (T. 386–397) einmal mit dem des Fugatos in der Durchführung (T. 138–146) als verlässlichster Tempoachse des Satzes überhaupt, so spielen ihn ähnlich viele Pianisten im gleichen Tempo wie schneller.
Ein Vergleich der Tempoentscheidungen in der Praxis mit den Tempoempfehlungen der Interpretationsausgaben ist erneut kein besonders fruchtbares Unterfangen, da die Ausgaben zu vielen Fragen entweder schweigen oder sich im Widerspruch zueinander befinden (was freilich auch eine Aussage ist). In jedem Falle bemerkenswert ist, dass über die einzige Sache, über die unter den Interpreten weitgehend Einigkeit besteht, auch unter den Editoren d’Albert und Schnabel Einigkeit herrscht (Bülow und Lamond äußern sich zu den Stellen, die für uns von Interesse sind, nicht): darüber, dass die Schlussgruppe langsamer gespielt werden soll als der Seitensatz. Da, wo es unter den Interpreten nur ‚Mehrheitsentscheidungen‘ gibt, sind d’Albert und Schnabel stets uneins oder kommen überhaupt zu ganz anderen Einsichten. Den zweiten Abschnitt des Seitensatzes (T. 75ff.) möchte d’Albert im selben Tempo wie den ersten (T. 47ff.), Schnabel hätte ihn gerne langsamer. Den Reprisenbeginn fordert Schnabel im Hauptzeitmaß – Halbe = 138 –, d’Albert dagegen rät zu einem langsameren Tempo: Er überschreibt ihn mit „Maestoso“, die Anweisung „Tempo I“ findet sich erst vier Takte später. Den Schluss wiederum (T. 386ff.) hätte d’Albert gerne zügiger – er schreibt „animando“ –, Schnabel dagegen im Tempo – bei ihm steht „non pressare“.
Wie groß die Einmütigkeit in den großformalen Tempoentscheidungen in der Appassionata und in op. 2/3 unter Pianisten wie Editoren ist, mag auf den ersten Blick verwundern. Auf den zweiten zeigt es vor allem, wie eindeutig die Tendenzen des musikalischen Materials bzw. seiner Bewegungsformen sind. Dass lediglich Traditionen und Phantasielosigkeit wirkten, ist angesichts der Fülle origineller – und auf Originalität erpichter – Interpreten kaum anzunehmen. Eher umgekehrt: Wie immer individuell und einzigartig man auch spielen möchte, die Musik nötigt zu gewissen Tempoentscheidungen.
In der Hammerklaviersonate ist das ganz offensichtlich anders. Hier legen die thematischen Gestalten und musikalischen Bewegungsformen weit weniger zwingend bestimmte Tempoentscheidungen nahe. Dabei dürften wie bereits bei der Wahl des Grundtempos auch bei den Entscheidungen der Tempodisposition im Einzelnen musikalische und spieltechnische Fragen ineinander gehen (siehe Kapitel 10).
9. Mehrfacheinspielungen
Jenseits solcher den Blick immer auf den Vergleich sämtlicher Einspielungen richtender Fragen haben wir genauer auch auf einzelne Interpreten und einzelne Interpretationen geschaut. Dabei haben wir unter anderem die mehrfachen Einspielungen desselben Werkes durch ein und dieselben Pianisten miteinander verglichen.
Aus der großen Fülle an Material greifen wir jetzt lediglich die Dreifacheinspielungen heraus. Sie erscheinen uns als Studienobjekt noch interessanter als die Doppeleinspielungen. Welche Konstanten, welche Variablen in der Tempogestaltung lassen sich ausmachen, wenn ein Künstler ein Werk im Abstand von mehreren Jahren oder sogar Jahrzehnten nicht nur zwei-, sondern sogar dreimal einspielt? Da hinsichtlich dieser Frage bei der Appassionata die Materiallage am besten ist, konzentrieren wir unseren Blick auch darauf. Jeweils drei Einspielungen lagen uns von den folgenden Pianisten vor: Alfred Brendel, Emil Gilels, Wilhelm Kempff, Svjatoslav Richter und Rudolf Serkin.
Abbildung 22: Tempokurven Appassionata Emil Gilels 1951, 1961 und 1975
Am klarsten unter allen Pianisten gestaltet sich die Entwicklung bei Emil Gilels (siehe Abbildung 22; zu Spieldauer, Tempoamplitude und Temposchwankungen vgl. auch die Abbildungen 6, 12 und 14). Er wird in den drei Aufnahmen aus den Jahren 1951, 1961 und 1975 von Aufnahme zu Aufnahme langsamer, insbesondere von der zweiten zur dritten Aufnahme. 1951 benötigt er 9:03 Min., 1961 9:22 Min., 1975 dann 10:50 Min. Und er spielt zunehmend strenger im Tempo. Die Tempoamplitude wird immer schmaler. Nehmen wir die Werte ohne das Più Allegro (was wir auch im Folgenden immer tun werden), so sinkt sie von 2,01 über 1,80 auf 1,68. Die mittleren Temposchwankungen von Takt zu Takt nehmen gleichfalls ab: von 8,47 über 7,69 auf 6,72%. Schaut man nun auf die Kurvenverläufe im Detail, so zeigt sich, dass von der Rücknahme des Tempos 1961 primär die Steigerungspartie in der Coda betroffen war – unter Umständen, um dem Più Allegro mehr Schlagkraft zu verleihen. Die Temporeduktion 1975 erstreckte sich dann vor allem auf den Anfang, auf das Thema des Seitensatzes, auf die akkordische Fortsetzung des Hauptsatzes in der Reprise T. 155ff., auf das Più Allegro sowie auf sämtliche Partien mit kleineren Notenwerten (alle drei Überleitungsteile, die beiden Schlussgruppen, die Durchführung des Hauptsatzes gegen Sechzehntelquintolen T. 79ff., die Steigerungspartie am Ende der Durchführung samt ‚Liquidierung‘ des ‚Schicksalsmotivs‘ sowie die Steigerungspartie in der Coda).
Die Entwicklung bei Gilels entspricht idealtypisch dem Topos des Mit-dem-Alter-immer-ruhiger-und-abgeklärter-Werdens. Und auch wenn es in einer Reihe anderer Fälle auffallende Verlangsamungen bei Mehrfacheinspielungen gegeben hat – bei der Appassionata etwa die Zweiteinspielung Walter Giesekings aus dem Jahre 1951 gegenüber der Ersteinspielung von 1939 (8:05 / 8:45) oder die Einspielungen von Richter (dazu gleich mehr), bei op. 2/3 wiederum die Aufnahmen von Gilels (1952 – 6:46 / 1981 – 7:31) und Richter (1950 – 7:12 / 1975 – 7:39) sowie von Claudio Arrau (1938 – 7:43 / 1986 – 8:45) und Arturo Benedetti Michelangeli (1941 – 7:37 / 1949 – 7:29 / 1975 – 8:05) –, so ist eine solche Entwicklung doch keineswegs die Regel, und schon gar nicht eine, die gleich auch die Parameter Tempoamplitude und Temposchwankungen mit einbegreift.
Abbildung 23: Tempokurven Appassionata Svjatoslav Richter 1959, 1960 und 1992
Der Entwicklung von Gilels am ähnlichsten ist die von Richter (siehe Abbildung 23), der bei der Appassionata gleichfalls von Aufnahme zu Aufnahme langsamer wird. Bereits die zweite Einspielung aus dem Jahre 1960, die nur ein Jahr nach der ersten erfolgte, ist merklich langsamer (10:31 statt 10:00). Die Tempoamplitude ist jedoch gewachsen (2,53 statt 2,25), während die mittleren Temposchwankungen unverändert geblieben sind (7,61%). Die dritte Aufnahme von 1992 ist dann noch einmal beträchtlich langsamer (11:28), und jetzt sind auch Tempoamplitude (1,9) und Temposchwankungen (7,12%) deutlich reduziert. Schaut man wiederum auf die Kurvenverläufe im Detail, so zeigt sich, dass von der Rücknahme des Tempos 1960 vor allem der Anfang, der Beginn der Durchführung, die Durchführung des Seitensatzes sowie das Più Allegro betroffen waren. Die Temporeduktion 1992 erstreckte sich dann gezielt auf sämtliche Partien mit kleinen Notenwerten (die drei Überleitungspartien, die beiden Schlussgruppen, die Durchführung des Hauptsatzes gegen Sechzehntelquintolen T. 79ff., die virtuosen Steigerungspartien am Ende der Durchführung und noch mehr der Coda, das Più Allegro, aber auch auf den Beginn der Reprise über durchgehenden Triolenachteln). Umgekehrt sind der Anfang sowie der Beginn der Reprise nicht mehr ganz so langsam wie 1960.
Ist in der Aufnahme von 1992 die Überleitung in der Exposition nicht sehr viel schneller als der Hauptsatz, so ist sie es in der Reprise überhaupt nicht. Es scheint, als hätte Richter seinen früheren verächtlichen Worten nun auch selbst Taten folgen lassen. 1970 hatte Richter, wie in Kapitel 1 bereits erwähnt, bei einem Interview zur Appassionata in der Sovetskaja muzyka alle, die in der Überleitung nicht am Tempo festhalten, der Undiszipliniertheit, Trägheit und „Waschlappen-Mentalität“ bezichtigt.[82] Dabei ging er nicht mit einem Wort darauf ein, dass eine solche Haltung auch seinen eigenen früheren Appassionata-Einspielungen eigen war, offen lassend, ob er inzwischen seine Meinung geändert habe oder ob ihm die Differenz zu seinen eigenen Taten gar nicht bewusst sei. Wir sind in unserem Beitrag über das Tempo in Beethovens Appassionata ausführlicher auf die Frage zu sprechen gekommen.[83] In der Aufnahme von 1992 jedenfalls spielt Richter weitgehend so, wie er es 1970 auch von anderen verlangt hat.
Betrachtet man die Einspielungen von Gilels und Richter im Vergleich, so bemerkt man jenseits des ‚Wettbewerbs‘ um die langsamste Appassionata auch im Detail eine gegenseitige Beeinflussung. So wie Gilels von Richter 1975 das langsame Tempo insgesamt sowie die Warnung vor zu raschem Tempo in der Überleitung übernahm, so folgte Richter Gilels 1992 dann in der Zurücknahme des Tempos in der Schlussgruppe sowie in sämtlichen virtuosen Steigerungspartien. Bei aller Konkurrenz waren sich die beiden Pianisten in den wesentlichen Tempoprinzipien letztendlich einig.
Abbildung 24: Tempokurven Appassionata Wilhelm Kempff 1932, 1951 und 1964
Weitgehend anders verläuft die Geschichte in den drei Appassionata-Einspielungen von Wilhelm Kempff (siehe Abbildung 24), die sich insgesamt überhaupt weniger voneinander unterscheiden als die verschiedenen Aufnahmen von Gilels und Richter. Kempff ist in seiner ersten Aufnahme aus dem Jahre 1932 am langsamsten (1932 – 9:48 / 1951 – 9:26 / 1964 – 9:37), spielt dort allerdings auch mit der größten Tempoamplitude (1,65 / 1,51 / 1,45) und den größten Temposchwankungen (8,23 / 5,96 / 6,29%). Spielt er das Più Allegro dort am schnellsten, so nimmt er andererseits eine größere Zahl von dramatischen oder formgliedernden Verlangsamungen vor, auf die er in den beiden späteren Aufnahmen verzichtet: jeweils vor dem Seitensatz in Exposition und Reprise (T. 34 und 173), beim neapolitanischen Sextakkord in T. 42 und 181, vor der Durchführung, vor der Durchführung des Hauptsatzes gegen Sechzehntelquintolen (T. 79ff.) sowie vor der Schlussgruppe in der Reprise (T. 189) (die starke Zäsur vor der Überleitung in der Exposition wird durch eine noch stärkere Zäsur vor der Überleitung in der Reprise in der Aufnahme von 1951 überboten). In der Aufnahme von 1964 verzichtet Kempff außer auf zwei von Beethoven geforderte überhaupt auf alle stärkeren Zäsuren. Zudem nimmt er das Tempo gegenüber beiden früheren Aufnahmen an Stellen zurück, an denen es Gilels und Richter später auch reduzieren sollten: in der Schlussgruppe, bei den Durchführungsquintolen T. 79ff. sowie nach Beginn der Reprise (T. 142–147).
Abbildung 25: Tempokurven Appassionata Rudolf Serkin 1936, 1947 und 1963
Bei Rudolf Serkin (siehe Abbildung 25) ist gleichfalls die erste Aufnahme aus dem Jahre 1936 die langsamste (9:09), im Unterschied zu allen bisher genannten Pianisten ist sie aber auch die mit der geringsten Tempoamplitude (1,31) und den geringsten Temposchwankungen (4,36%). Die Aufnahme von 1947 ist deutlich rascher (8:21). Ist die Tempoamplitude fast unverändert geblieben (1,32) und haben die Temposchwankungen nur minimal zugenommen (4,78%), so sind gerade jedwede Verlangsamungen auf ein absolutes Minimum reduziert – siehe pars pro toto den neapolitanischen Sextakkord in T. 42, der tempomäßig fast übergangen wird. Die Aufnahme von 1963 kehrt dann zum langsameren Vorkriegstempo zurück (9:05), dafür wird sie etwas freier in der Tempogestaltung, und zwar sowohl, was die Tempoamplitude angeht (1,41), als auch die Temposchwankungen (5,85%). Hinsichtlich der Tempoamplitude liegt Serkin dabei im Vergleich zu anderen Pianisten immer noch am alleruntersten Rande des Spektrums (vgl. Abbildung 12). Unverkennbar ist bei alledem, dass Serkin bei den Verlangsamungen – den durch den Notentext geforderten wie den nicht geforderten – in dieser Aufnahme weiter geht als in den beiden früheren Einspielungen.
Abbildung 26: Tempokurven Appassionata Alfred Brendel 1962, 1970 und 1995
Die Aufnahmen von Alfred Brendel (siehe Abbildung 26) unterscheiden sich im mittleren Tempo noch weniger voneinander als die von Wilhelm Kempff – mit der dritten Aufnahme als geringfügig langsamster (1962 – 9:28 / 1970 – 9:34 / 1995 – 9:43). Divergieren erste und dritte Aufnahme hinsichtlich Tempoamplitude und Temposchwankungen so gut wie gar nicht, so doch die zweite, die in beiden Kategorien die höchsten Werte aufweist, also freier im Tempo ist (Tempoamplituden: 1,57 / 1,81 / 1,58; Temposchwankungen: 6,15 / 7,07 / 6,29%). In den Tempospitzen und den Tempotälern, bei Beschleunigungen wie Verlangsamungen ist die Aufnahme von 1970 in den meisten Fällen am ausgeprägtesten – wir brauchen darauf im Einzelnen nicht einzugehen, die Grafik zeigt es sinnfällig. Hat man insgesamt das Gefühl, dass Brendel in seiner dritten Aufnahme zur Tempokonzeption der ersten Aufnahme zurückkehrt, so sind doch gegenüber dieser ein paar Abschnitte mit kleineren Notenwerten im Tempo gebremst: die erste Schlussgruppe, die dritte Überleitung samt vorausgehender Akkordpassage sowie das Più Allegro.
Ein gemeinsames Prinzip lässt sich im Falle unserer Mehrfacheinspielungen nicht erkennen. Bei den beiden sowjetischen Pianisten sind die Differenzen zwischen den Aufnahmen insgesamt stärker ausgeprägt, bei den deutschen und österreichischen schwächer. Die allmähliche Temporeduktion bei Gilels und Richter ist dialektisch mit der Tempogeschichte der Appassionata im 20. Jahrhundert verbunden: Sie ist durch sie konditioniert, so wie sie sie ganz wesentlich mitgeprägt hat. Die zunehmende Tempokonstanz bei Gilels, Richter und partiell auch bei Kempff entspricht einer wiederholt postulierten historischen Tendenz im 20. Jahrhundert[84], die sich bei unseren Tempomessungen flächendeckend allerdings nicht erhärten ließ. Und bei Serkin wie Brendel hätten wir ansatzweise ja auch schon zwei Gegenbeispiele. Inwieweit die die späteren Einspielungen von Gilels und Richter, Kempff und Brendel gleichermaßen prägende Temporeduktion in Partien mit kleinen Notenwerten Ausdruck einer antivirtuosen Ästhetik darstellt oder Zeugnis nachlassenden physischen Potentials der älter werdenden Pianisten ist, ist eine offene Frage. Gleichfalls offen muss die Entscheidung bleiben, ob die stärkeren Differenzen in der zweiten Appassionata-Einspielung gegenüber der ersten und dritten bei Alfred Brendel anlässlich des 200. Geburtstages von Beethoven 1970 lediglich dem Wunsch entsprangen, es ‚zur Abwechslung einmal anders‘ zu machen, oder ob sich hier gleichfalls – wenn auch auf andere Weise als bei Gould und Gulda – der Einfluss der 1968er Jahre zeigt. Dass Rudolf Serkin dagegen nach seiner gemessenen Ersteinspielung 1936 in den beiden Folgeeinspielungen auf je andere Weise versuchte, seine Appassionata-Interpretation zu beleben – 1947 durch Tempo, 1963 durch Tempoflexibilität –, dürfte außer Frage stehen.
10. Artur Schnabel gegen sich selbst
Artur Schnabel hat nicht nur alle Klaviersonaten von Beethoven auf Schallplatte eingespielt, er hat sie auch in annotierten, mit Tempo- und Metronomangaben versehenen Noteneditionen vorgelegt. In diesem Kapitel wollen wir die Tempokurven seiner Aufnahmen mit den Tempoempfehlungen seiner Edition vergleichen – schauen, inwieweit sie miteinander übereinstimmen und die Abweichungen diskutieren. Die Aufnahmen der drei von uns untersuchten Sonaten stammen aus den Jahren 1933 (op. 57), 1934 (op. 2/3) und 1935 (op. 106), die Edition der Sonaten aus den Jahren 1924–1927. Für eine Neuauflage beim Verlag Simon & Schuster in New York 1935 sah Schnabel die Edition noch einmal durch, wobei die Modifikationen dann nicht in die Ausgabe von Simon & Schuster 1935 Eingang fanden, sondern erst in jene von Curci 1949. Hinsichtlich der Tempoangaben hat sich in den drei von uns untersuchten Sonaten jedoch nichts geändert, man darf also davon ausgehen, dass die Tempoangaben in der Edition von 1924–1927 prinzipiell auch Schnabels Tempovorstellungen zur Zeit der Aufnahmen entsprachen. Auf einen Vergleich der Appassionata-Einspielung von Frederic Lamond mit dessen Notenedition verzichten wir, da die Tempoangaben lediglich einen Torso darstellen, der eher editionstechnisch als künstlerisch begründet sein dürfte. Lamond übernimmt – wohl um die Herausgeberzusätze von den Textanweisungen Beethovens abzugrenzen – aus der Edition von Hans von Bülow lediglich die (wenigen) Metronomangaben, verzichtet jedoch auf alle weiteren (zahlreichen) wortsprachlich vermittelten Tempoanweisungen.
Abbildung 27: Tempokurve Appassionata Artur Schnabel (1933) im Vergleich mit den Angaben seiner Notenedition (1924–1927/1949)
Schnabel hat den ersten Satz der Appassionata in seiner Edition überaus differenziert metronomisiert, und er entspricht diesen Angaben in der Einspielung sehr weitgehend. Abbildung 27 zeigt die Tempokurve der Einspielung zugleich mit den Tempoangaben der Edition. Die Abweichungen bestehen im Großen und Ganzen darin, dass Schnabel die Tempohöhen noch überbietet (T. 24ff., T. 81ff., T. 112ff., T. 227ff.), die Tempotäler bzw. -niederungen dagegen unterbietet (Anfang von Exposition und Durchführung). Eine ohnehin dramatische Tempokonzeption wird in der Aufnahme also noch stärker dramatisiert.
Aufmerksamkeit verdienen vor allem zwei Stellen: die Tempoüberbietung in T. 227ff. und die Tempounterbietung zu Beginn des Satzes. Die Tempoüberschreitung in T. 227ff. fällt besonders auf, da sie aus einer Temposteigerung an einer Stelle resultiert, wo die Edition gerade zu einer Reduktion des Tempos rät. Und sie geht in der Aufnahme einher mit einer Flut von falschen Tönen. Schnabel hat das Resultat so stehen gelassen und zur Publikation freigegeben; er scheint es in seiner Art für gelungen gehalten zu haben, unseres Erachtens zu Recht, da ihm unleugbar etwas Hochdramatisches, ja Ekstatisches anhaftet.[85] Der Unterschied zwischen Editionsempfehlung und Aufführungspraxis dürfte auf der Differenz zwischen ruhigem, vorausschauendem Kalkül zu Hause – einem Kalkül, das nicht zuletzt auch die technischen Schwierigkeiten der Stelle im Auge behält – und dem hitzigen Eifer des Gefechts im Konzertsaal bzw. Aufnahmestudio beruhen, in dem man in einer ganz spezifischen Mischung aus Konzentration und Stress zu Entscheidungen greift, die man bei kühler Distanz eben nicht gefällt hätte, Entscheidungen, die zwar mit Einbußen verbunden sind, die letztendlich jedoch überzeugen. Im Vergleich zu den Einspielungen anderer Pianisten ist Schnabels Tempogestaltung an dieser Stelle singulär. Unter sämtlichen Aufnahmen, deren Tempo wir untersucht haben, gibt es nur eine einzige, die bei ohnehin schon raschem Tempo hier noch einmal an Tempo zulegt. Es ist diejenige von Walter Gieseking aus dem Jahre 1939, und sie steht Schnabel auch in der Menge an falschen Tönen nicht nach.
Die zweite Stelle, die unsere Aufmerksamkeit verdient, ist der Beginn des Satzes. Schnabel nennt dafür in seiner Edition ein Tempo, das er zwar am Anfang der Reprise spielt, nicht im Entferntesten aber zu Beginn der Exposition. Das künstlerische Ergebnis eines vergleichsweise langsamen Satzanfangs darf gleichfalls als gelungen bezeichnet werden, und so wie Schnabel in der Aufnahmegeschichte der Appassionata der Erste mit einer derartigen Tempokonzeption war, so sind ihm hierin viele Interpreten gefolgt. Vor Schnabel waren die Tempokurven stets flacher, sei es bei rascherem Tempo – Frederic Lamond, Harold Bauer (beide 1927) –, sei es bei langsamerem – Wilhelm Kempff (1932). Die berühmteste Appassionata-Einspielung nach Schnabel mit einem auffallend langsamen Satzbeginn ist die von Svjatoslav Richter (1960).
Für die von der eigenen Spielpraxis so stark abweichende Metronomisierung gibt es unseres Erachtens drei Erklärungsmöglichkeiten. Erstens kann man sie als einfachen Wahrnehmungsfehler deuten: Schnabel denkt das Tempo mit den durchgehenden Achteln des Reprisenbeginns und spielt es ohne die Achtel im Gestus einer rhapsodisch-versonnenen Einleitung einfach langsamer. Dieser Sachverhalt mag sich zweitens im Kontext einer besonders expressiven Aufführungssituation, die dazu neigt, eine dramatische Formkurve noch dramatischer zu machen, noch verstärken. Drittens schließlich ist es aber auch gut möglich, dass Schnabel eine regulative Idee im Kopf herumgeisterte, die ihm verbot, Expositions- und Reprisenbeginn verschieden zu metronomisieren: die Vorstellung von Form als ‚architektonischer‘ Form.[86] Unter den 32 Sonaten von Beethoven findet sich nicht eine, in der Schnabel Expositions- und Reprisenbeginn verschieden metronomisiert hätte, auch nicht um eine noch so kleine Differenz, was angesichts der minutiösen Bezeichnungsdifferenzen, die bei ihm sonst begegnen, eigentlich erstaunlich anmutet (am Ende des Kapitels werden wir auf diese Frage noch einmal zu sprechen kommen).
Mit dem besonders langsamen Beginn sekundär verbunden ist die gestörte Temporelation zwischen Haupt- und Seitensatz: der Sachverhalt, dass Schnabel in der Edition dazu rät, den Seitensatz langsamer zu nehmen als den Hauptsatz, es in der Schallplatteneinspielung jedoch genau umgekehrt macht. In der Reprise entspricht seine Aufführungsempfehlung exakt dem, was er auch selbst praktisch tut; er spielt den Seitensatz tatsächlich langsamer als den Hauptsatz.
Abbildung 28: Tempokurve op. 2/3 Artur Schnabel (1934) im Vergleich mit den Angaben seiner Notenedition (1924–1927/1949)
In der Sonate op. 2/3 (siehe Abbildung 28) sind die Bezeichnungen der Edition weitaus weniger differenziert als in der Appassionata, und Schnabel weicht von ihnen in seiner Einspielung auch weit stärker ab. Es beginnt damit, dass er dem raschen Tempo nicht nur zu Beginn von Exposition und Reprise nicht folgt, sondern überhaupt sämtliche thematisch bzw. melodisch gebundenen Teile deutlich langsamer nimmt, während lediglich die virtuosen Partien sowie die ‚energisch-muntere‘ Episode in T. 39ff. seinen Tempoangaben entsprechen. Mit anderen Worten: Die Differenz zwischen thematischen und virtuosen Abschnitten in Hauptsatz, Seitensatz, Schlussgruppe und zu Beginn der Durchführung bezeichnet er überhaupt nicht, allein innerhalb der Überleitung macht er einen Temposprung geltend.
Dass Schnabel so vergleichsweise wenige Tempomodifikationen indiziert, dürfte mit der damals weitverbreiteten Ansicht zu tun haben, dass der frühe Beethoven im Wesentlichen in ein und demselben Tempo zu spielen sei. Die Tempomodifikationen aber, die Schnabel anzeigt, sind unseres Erachtens vollständig nur vor dem Hintergrund der Ausgabe von Frederic Lamond zu verstehen, von der er sich kritisch abgrenzt. Lamond hatte in seiner Ausgabe gerade zwischen thematischen und virtuosen Abschnitten im Haupt- und Seitensatz Temposprünge empfohlen, nicht jedoch innerhalb der Überleitung zur Episode in T. 39ff. Schnabel verfährt genau umgekehrt – und das, obwohl er auch an den von Lamond bezeichneten Stellen in beschleunigtem Tempo spielt. Dass Schnabel für T. 13 wie für T. 61 nicht auch ein rascheres Tempo anzeigt, hängt offensichtlich damit zusammen, dass er hier bestenfalls allmähliche Tempoübergänge im Auge hatte, anders als in T. 39. Hinter diesem Sachverhalt aber dürfte nichts Geringeres stehen als eine prinzipiell andere Auffassung des Werkes. Spätestens seit Wilhelm von Lenz (1860) war die Sonate immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, ein Virtuosenstück und kein in sich geschlossenes Ganzes zu sein. Lenz schrieb:
„Die dritte Sonate in op. 2 (C-Dur) steht mit Ausnahme des wunderbaren Adagios in E-Dur 2/4 den beiden anderen Sonaten op. 2 sehr nach. Der erste, immer maaßgebende Satz (Allegro con brio 4/4) ist eine Fusion des Klavierstyls von Haydn und Mozart zu einem Cembalistenstück, das keine musikalische Bedeutung, nichts mit einer poetischen Grundidee zu thun hat. […] Wir stehen hier vor dem einzigen Klaviersatz von Beethoven, in dem man ganz eigentliche Klavierpassagen (13. und folgende Takte) findet“.[87]
Eugen d’Albert (1902) resümierte dieses Bild dann noch einmal in einer Fußnote zu seiner Edition: „Diese Sonate ist als reine Virtuosen-Sonate zu beachten. Man versuche nicht irgend welche tiefsinnige [sic] Grübeleien hinein zu geheimnissen.“[88]
Der Auffassung der Sonate als Virtuosenstück dürfte die Metronomisierung von Lamond entsprechen, der die virtuosen Passagen T. 13ff. und T. 61ff. durch rascheres Tempo, ein Tempo, das nirgends überboten wird, als virtuose Passagen ostentativ herausstellt. Bei Schnabel dagegen werden die virtuosen Passagen in einen ganzheitlich übergreifenden Tempoprozess integriert. Weder wird ihnen ein eigenes Tempo zugewiesen noch markieren sie die Tempohöhepunkte des Satzes. Einen abrupten Tempowechsel ruft dagegen eine charakteristische Themengestalt hervor wie der Gedanke in T. 39ff. Dass Schnabel dann andererseits für T. 69ff. ein noch schnelleres Tempo angibt – den Tempohöhepunkt des Satzes –, eine Empfehlung, der er in seiner Einspielung gar nicht folgt, entspricht gleichfalls dem Ideal eines übergeordneten Tempoprozesses, in den alle Gestalten, ob thematisch, melodisch oder virtuos, eingebunden sind.
Für die Entscheidung schließlich, als Grundtempo des Satzes nicht den Hauptsatz, sondern die Passagengruppe danach anzunehmen, dürfte auch nicht nur der pragmatische Sachverhalt verantwortlich sein, dass sich bei durchgehenden kleineren Notenwerten leichter das Tempo denken lässt, sondern wiederum Schnabels ganzheitliche, antivirtuose Konzeption: Die Passagengruppen sind nicht ‚brillante‘ Überbietungen des Tempos, sie markieren den eigentlichen Tempofluss, demgegenüber die thematischen Partien Residuen spannungsvoller Konzentration – und damit auch einer Temporücknahme – darstellen.
Abbildung 29: Tempokurve op. 2/3 Wilhelm Backhaus (1952) im Vergleich mit den Angaben der Notenedition von Frederic Lamond (1923)
Dem Tempomodell Lamonds, der die Sonate leider nicht auf Schallplatte eingespielt hat, entspricht am stärksten die Aufnahme von Wilhelm Backhaus aus dem Jahre 1952, einem Pianisten, der wie Lamond in der Liszt-Tradition ausgebildet wurde. Backhaus nimmt zu den virtuosen Passagengruppen jeweils deutliche Temposprünge vor, und sie markieren die absoluten Höhepunkte des Tempoverlaufs, wobei sie darin noch sehr viel weiter gehen als bei Lamond. Es hat geradezu den Anschein, als habe der 68jährige Backhaus mit seiner Interpretation noch einmal exemplarisch die Behauptung seines verehrten Lehrers aus Jugendtagen Eugen d’Albert von der Sonate op. 2/3 als „reiner Virtuosen-Sonate“ bekräftigen wollen. Abbildung 29 zeigt die Tempokurve der Einspielung von Backhaus in Kombination mit dem Tempoplan Lamonds.
Abbildung 30: Tempokurve Hammerklaviersonate Artur Schnabel (1935) im Vergleich mit den Angaben seiner Notenedition (1924–1927/1949)
In der Hammerklaviersonate (siehe Abbildung 30) bezeichnet Schnabel den Tempoverlauf wieder sehr differenziert, und über weite Strecken entspricht sein Spiel erneut und vielleicht sogar noch stärker als in der Appassionata seinen Interpretationsempfehlungen. Im Unterschied zur Appassionata und zu op. 2/3 spielt er insbesondere den Anfang in dem sehr raschen angegebenen Tempo, was natürlich auch damit zusammenhängen dürfte, dass der Anfang im Kontext der Diskussionen um das autographe Tempo den point de la perfection darstellte (siehe Kapitel 5). Die extremen Verlangsamungen in der Tempokurve entsprechen – abgesehen von dem Abfangen von Tempo und Dynamik vor dem Schlussgruppengedanken in T. 99, T. 331 und 361 sowie einer Temporücknahme zu Beginn der Schlusssteigerung vor der Reprise in T. 221 – durchwegs den im Beethoven’schen Text geforderten Ritardandi und Fermaten, die Schnabel in seiner Ausgabe lediglich nicht ausmetronomisiert hat. Über einen längeren Zeitraum weicht Schnabel vom empfohlenen Tempo eigentlich nur im Seitensatz ab, wo er in beiden relevanten Abschnitten (T. 47ff. und 75ff.) rascher spielt, als er rät.
Warum Schnabel in der Hammerklaviersonate den Seitensatz so viel schneller spielt, als er in seiner Edition empfiehlt, ist schwer zu sagen. Genau genommen stehen dahinter zwei Fragen. Erstens: Warum metronomisiert er in der Edition den Seitensatz sogar langsamer als den Hauptsatz – ein Rat, dem nicht nur er selbst dann nicht folgt, sondern auch sonst kaum einer. Denkbar ist, dass es mit der raschen Metronomisierung des Satzes zu tun hat, die den Wunsch nach lyrischen Gesten nicht erst auf die Schlussgruppe vetrösten will. Wobei in diesen Entscheidungsprozess auch die Tradition des 19. Jahrhunderts eines im Tempo zurückgenommenen Seitensatzes hereinspielen mag. Die zweite Frage ist dann, warum Schnabel den Seitensatz tatsächlich aber schneller nimmt als den Hauptsatz. Uns scheint es im Falle der technisch so ungemein herausfordernden Hammerklaviersonate sehr gut vorstellbar, dass unter dem enormen Tempodruck, unter dem die Interpreten aufgrund der autographen Metronombezeichnung Beethovens stehen, der Seitensatz, weil er so vergleichsweise leicht zu spielen ist, im Eifer des Gefechts schlicht dazu neigt, ‚davonzulaufen‘. Dass er das aber erlaubt, beruht auf seiner kompositorischen Faktur. In der unentschiedenen Haltung zwischen lyrischer Wendung und Passage hat er einem Treiben des Tempos nichts entgegenzusetzen.
Schließlich aber scheint uns, dass sich bei Schnabel überhaupt ein Tempomodell verfestigt hat, das zur ‚Entwicklung‘ neigt. Das ‚Organismusmodell‘ in der Komposition – die Vorstellung, dass sich aus einem einzelnen Motiv eine umfangreiche komplexe Komposition entwickele wie aus einem Samenkorn ein großer Baum – erfährt bei Schnabel eine Übertragung auf die Kategorie des Tempos. Statt lediglich linear fortzuschreiten muss sich das Tempo gleichsam bogenförmig entwickeln. In der Appassionata und in op. 2/3 führt ein solches Tempomodell dazu, dass Schnabel so langsam beginnt; in der Hammerklaviersonate, wo das aufgrund der raschen Metronomzahl sowie der exzeptionellen Bedeutung des Tempos im Hauptthema nicht geht, dass der Seitensatz so schnell gerät.
11. Von Schlag zu Schlag
Abschließend wollen wir einen kurzen Blick auf die Messungen einzelner Zählzeiten werfen. Im Haupt- und Seitensatz der Appassionata haben wir das Tempo auch auf der Ebene der vier Hauptzählzeiten gemessen. Dabei ergab sich insgesamt ein signifikanter Zusammenhang zwischen den Temposchwankungen auf Takt- und auf Schlagebene. Wer von Schlag zu Schlag stark im Tempo schwankt, der tut es in der Regel auch von Takt zu Takt und umgekehrt. Schauen wir uns das im Seitensatz einmal an (siehe Abbildung 31): Hohe Temposchwankungen auf Takt- und auf Schlagebene weist etwa die Einspielung von Frederic Lamond (1927) auf, geringe Schwankungen auf beiden Ebenen die früheste Aufnahme von Rudolf Serkin (1936). Das Ergebnis wiederholt in nuce, was ein Vergleich der Temposchwankungen auf unterschiedlichen Taktebenen (von Takt zu Takt, von Zweitaktgruppe zu Zweitaktgruppe usw.) auch in op. 2/3 ergeben hatte (vgl. Kapitel 2 „Zur Methodologie der Tempomessungen“). Doch gibt es auch gegenläufige Beispiele. Die letzte Appassionata-Einspielung Serkins (1963) ist geprägt durch vergleichsweise geringe Temposchwankungen auf Takt- und hohe auf Schlagebene, die Aufnahme von Maria-João Pires (1975) durch hohe Temposchwankungen auf Takt- und geringe auf Schlagebene.
von Takt zu Takt | von Schlag zu Schlag | |
Frederic Lamond (1927) | 12,54 | 16,26 |
Rudolf Serkin (1936) | 1,30 | 4,72 |
Rudolf Serkin (1963) | 4,00 | 12,64 |
Maria- João Pires (1975) | 8,81 | 4,80 |
Abbildung 31: Mittlere Temposchwankungen von Takt zu Takt und von Schlag zu Schlag in Prozent Appassionata, T. 36–41
Abbildung 32: Tempokurven Artur Schnabel (1933) und Frederic Lamond (1927) Appassionata, T. 35–42, Werte der vier Hauptzählzeiten
Was die konkrete Tempogestaltung im Seitensatz angeht, haben wir noch eine interessante Detailbeobachtung gemacht. Es gibt Pianisten, die die ‚punktierte‘ Figur ** notorisch dehnen, und solche, die sie notorisch treiben. Zu Ersteren zählt wieder Frederic Lamond, zu Letzteren Artur Schnabel (1933). Abbildung 32 zeigt, dass Schnabel im Unterschied zu Lamond in den ersten drei Takten auffallend streng im Tempo spielt. Und sie zeigt, dass er gerade die punktierte Figur, die Lamond stets kantabel ausspielt, ein wenig treibt: minimal in T. 35/4. Zählzeit, T. 36/2 und 36/4, stärker in T. 38/2 und 38/4 und ganz eklatant in T. 39/4 und 40/2. Einzig in T. 40/4, im Zusammenhang mit dem crescendo vor dem piano, dehnt er die Figur auch. Dabei steht der agogische Sachverhalt in Wechselwirkung mit der Dynamik: Schnabel spielt das Thema auffallend leise – sehr viel leiser als Lamond. Insgesamt lässt sich sagen, dass aufgrund von Agogik und Dynamik der Seitensatz bei Schnabel extrem gut im Fluss ist und besonders einfach und unpathetisch wirkt. Ganz im Sinne der Spielanweisungen in seiner Notenedition, wo er für die linke Hand egualmente, tranq[uillo] fordert, für die rechte dolce, non espressivo. Der schlichte, unpathetische Gestus aber stellt eine wirkungsvolle Folie dar für die großen dynamischen und agogischen Ereignisse, die dem Thema noch widerfahren sollen – einen ersten jähen Vorgeschmack geben T. 39 und 40.
Es wäre wünschenswert, derartige Untersuchungen auf die Länge ganzer Sätze auszudehnen. Zum einen würde es erlauben, den Zusammenhang zwischen den Temposchwankungen auf Takt- und auf Schlagebene insgesamt zu bewerten, und nicht nur an Hauptattraktionspunkten des Formverlaufs, die unter Umständen gerade nicht repräsentativ sind. Zum anderen würde es die Möglichkeiten einer differenzierten Tempobeschreibung überhaupt erweitern. In Anbetracht des damit verbundenen großen Arbeitsaufwandes würden sich allerdings eher kürzere Sätze als Untersuchungsobjekt empfehlen.
12. Ausblick
Im Rahmen der vorliegenden Studie haben wir in Aufnahmen von drei Klaviersonaten Ludwig van Beethovens aus den 1920er bis 2000er Jahren das Tempo gemessen, und zwar in einem computergestützten Verfahren selbst hörend und von Hand (siehe Kapitel 2). Die Aussichten, dass sich an dem Messverfahren bald etwas ändern könnte – dass ein Computer dazu allein in der Lage wäre –, scheinen einstweilen gering.[89]
Gering mutet derzeit aber auch die Perspektive an, über den Parameter Zeitgestaltung herauszukommen durch die Untersuchung anderer Toneigenschaften. Bei der Dynamik etwa sind die Leistungen der Interpreten von denen der Tonmeister oder Produzenten, d.h. von all jenem, was Hans-Joachim Maempel als „sekundäre Interpretation“ bezeichnet hat[90], überhaupt kaum sicher zu trennen.
Im Rahmen des Parameters Zeitgestaltung kann man dagegen versuchen, andere Ebenen als die des Taktes miteinzubeziehen: die Ebene der einzelnen Zählzeiten sowie verschiedene Ebenen oberhalb des Taktes (Zweitaktgruppen, Viertaktgruppen usw.); ansatzweise haben wir so etwas bereits getan (Kapitel 2 und 11).
In jedem Falle unerlässlich scheint es aber, das Repertoire an untersuchten Stücken zu erweitern. Zum einen auf Werke anderer Komponisten, zum anderen auf Gattungen jenseits der Solosonate, auf Kammermusik und Symphonie. Hat sich dort ebenfalls das Tempo zwischen den 1950er und 1980er Jahren verlangsamt? Und spielen auch dort russisch-sowjetische Interpreten langsamer und freier im Tempo als deutsch-österreichische? Oder tun sich hier vielleicht überhaupt ganz andere historische Tendenzen und national- bzw. kulturspezifische Differenzen auf?
Bei einer genügend großen Zahl an untersuchten Werken ließen sich dann unter Umständen auch übergreifende stilistische Fragestellungen beantworten wie etwa die, ob Mozart tatsächlich mit weniger Temposchwankungen gespielt wird als Brahms, der frühe Beethoven mit geringeren als der späte. Und es ließen sich gattungsorientierte Fragestellungen beantworten wie die, ob Tempogestaltung nicht prinzipiell davon abhängt, ob nur einer spielt, der zugleich auch die künstlerischen Entscheidungen trifft, ob zwei, drei oder vier Musiker spielen, die idealiter gleichberechtigt sein sollen, oder ob ein ganzes Orchester spielt, vor dem ein Dirigent steht, der anzeigt, wie das Tempo genommen werden soll. Nach den Vorstellungen des frühen 19. Jahrhunderts, welche geprägt waren von einer Musizierpraxis, die trotz ständig neuen Repertoires mit nur wenigen Proben rechnete, war eine flexible Tempogestaltung lediglich in Solo- und kleinbesetzter Kammermusik denkbar. Wie verhält sich der Sachverhalt dagegen unter den Repertoire- und Probenbedingungen des 20. und 21. Jahrhunderts?
Bei wachsender Zahl an untersuchten Werken und Aufnahmen ist natürlich auch denkbar, dass sich schließlich alle historischen, nationalen und gattungsspezifischen Unterschiede verlieren und sich herausstellt, dass das Tempo summa summarum und allüberall letztendlich gleich geblieben ist und bleibt. Doch werden sich mit Sicherheit im einzelnen immer wieder charakteristische Tempogeschichten ergeben – wie bei der Appassionata und der Hammerklaviersonate etwa, aber auch bei der B-Dur-Sonate von Franz Schubert[91] –, die über die Rezeption der Werke und damit über diese selbst etwas Maßgebliches zu sagen vermögen.
[1] Heinz von Loesch und Fabian Brinkmann, ‚Das Tempo in Beethovens Appassionata von Frederic Lamond (1927) bis András Schiff (2006)‘, in: Gemessene Interpretation. Computergestützte Aufführungsanalyse im Kreuzverhör der Disziplinen, hrsg. von Heinz von Loesch und Stefan Weinzierl, Mainz 2011 (Klang und Begriff 4), S. 83–100; Dies., ‚Die Tempogestaltung in Artur Schnabels Appassionata-Einspielung im Kontext zeitgenössischer Interpretationen‘, in: Beethoven 5 – Studien und Interpretationen, hrsg. von Mieczysław Tomaszewski und Magdalena Chrenkoff, Krakau 2012, S. 215–224; Dies., ‚„Diese Sonate ist als reine Virtuosen-Sonate zu beachten“ – Das Tempo in Beethovens Klavier-Sonate op. 2/3 von Josef Hofmann (1929) bis Lang Lang (2010)‘, in: Vom Klang zur Schrift – von der Schrift zum Klang. Beiträge des Seminars in Münster 2012 (EPTA-Dokumentation 2012), Düsseldorf 2014, S. 122–134; Dies., „Feurig“ oder „majestätisch“? – Tempo und Deutung im ersten Satz von Beethovens Hammerklaviersonate‘, in: Beethoven 6 – Studien und Interpretationen, hrsg. von Mieczysław Tomaszewski und Magdalena Chrenkoff, Krakau 2015.
[2] Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Leipzig 1854, Bd. 1, S. 194.
[3] Anton Schindler, Biographie von Ludwig van Beethoven, Münster 41871, Bd. 2, S. 247.
[4] Sofia Krastev und Michael Haenisch, Art. ‚Smart, Sir George (Thomas)‘, in: Das Beethoven-Lexikon, hrsg. von Heinz von Loesch und Claus Raab, Laaber 2008, S. 697.
[5] Rudolf Kolisch, Tempo und Charakter in Beethovens Musik, mit einem Kommentar zur Edition und einem Nachwort von Regina Busch und David Satz, München 1992 (Musik-Konzepte 76/77).
[6] Konrad Wolff, Interpretation auf dem Klavier. Was wir von Artur Schnabel lernen, München und Zürich 1979, S. 20.
[7] Richard Wagner, ‚Über das Dirigieren‘ (1869), in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 8, hrsg. von Wolfgang Golther, Berlin usw. o.J., S. 261–337.
[8] Ebenda, S. 289f.
[9] Die Kunst des Quartettspiels. Das Guarneri-Quartett im Gespräch mit David Blum, Kassel u.a. 1988, S. 106f.
[10] ‚ ‚Appassionata‘. Mysli masterov‘, in: Sovetskaja muzyka (1970/4), S. 86.
[11] José Antonio Bowen, ‚Tempo, Duration, and Flexibility: Techniques in the Analysis of Performance‘, in: The Journal of Musicological Research 16 (1996), S. 111–156, insbes. S. 137ff.
[12] Richard Taruskin, ‚Resisting the Ninth‘, in: Nineteenth-Century Music 12/3 (1988/89), S. 241–256; Wolfgang Auhagen, ‚Furtwänglers Tempogestaltung im Spannungsfeld zwischen Konzerttradition und Reproduktionstechnik‘, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2005, S. 35–51.
[13] Zur Software Sonic Visualiser siehe die Homepage von CHARM (The AHRC Research Centre for the History and Analysis of Recorded Music), jener englischen Institution, der die computergestützte Interpretationsforschung in den letzten Jahren so viel zu verdanken hat: http://www.charm.rhul.ac.uk/analysing/p9_0_1.html (zuletzt besucht am 3. Januar 2013). – Eine Software, die es erlaubt, nicht messend, aber hörend verschiedene Aufnahmen miteinander zu vergleichen, indem man an beliebigen Stellen zwischen ihnen hin- und herschalten kann, ist der ‚Interpretation-Switcher‘. Ein solcher steht, bestückt mit einer großen Zahl verschiedener Einspielungen von Beethovens Appassionata, im Studio für digitale Sammlungen in der Dauerausstellung des Beethoven-Hauses in Bonn:
http://www.beethoven-haus-bonn.de/sixcms/detail.php?id=&template=portal_de&_sprache=deutsch (zuletzt besucht am 7. Dezember 2013).
[14] Vgl. dazu Stefan Weinzierl und Hans-Joachim Maempel, ‚Zur Erklärbarkeit der Qualitäten musikalischer Interpretationen durch akustische Signalmaße‘, in: Gemessene Interpretation, hrsg. von Loesch und Weinzierl (wie Anm. 1), S. 213–236.
[15] Wagner, ‚Über das Dirigieren‘ (wie Anm. 7).
[16] Bowen, ‚Tempo, Duration, and Flexibility‘ (wie Anm. 11); Auhagen, ‚Furtwänglers Tempogestaltung‘ (wie Anm. 12); Nicholas Cook, ‚The Conductor and the Theorist. Schenker and the First Movement of Beethoven’s Ninth Symphony‘, in: The Practice of Performance. Studies in Musical Interpretation, hrsg. von John Rink, Cambridge u.a. 2005, S. 105–125; Lars E. Laubhold, ‚Annäherung ans „Unmerkliche“. Zur Methodik der Analyse musikalischer Zeitgestaltung am Beispiel von Beethovens 5. Sinfonie‘, in: Musicologica Austriatica 29 (2010), S. 71–88.
[17] Eine für diese Zeit überaus zuverlässige Quelle ist The World’s Encyclopædia of Recorded Music, hrsg. von Francis F. Clough und G.J. Cuming (Bd. 1: 1950–51, Bd. 2: 1951–52, Bd. 3: 1953–55), London 1966, Westport Connecticut R1970. Sie nennt auch die Aufnahmen der Vorkriegszeit sowie Aufnahmen aus der Sowjetunion. Ansonsten empfiehlt sich die ständig im Wachsen begriffene Internet-Seite Famous Artists‘ Discographies on Net: http://fischer.hosting.paran.com/music/Ring/disco-virtuosos.htm (zuletzt besucht am 3. Januar 2013).
[18] Abgesehen von einem weiteren Rundfunkmitschnitt von Walter Gieseking gleichfalls aus dem Jahre 1949. – P.S. 24. Oktober 2014: Und abgesehen auch von drei weiteren Aufnahmen aus den 1930er Jahren, die uns trotz sorgfältiger Recherchen entgangen sind: Wilhelm Kempff 1936, Richard Bühlig ca. 1938 und Louis Kentner 1939. Die Aufnahmen von Kempff und Kentner sind in The World’s Encyclopædia of Recorded Music (vgl. Anm. 17) zwar verzeichnet, doch ohne Jahr. Wir nahmen an, es handele sich um Nachkriegsaufnahmen. Für diesen Wink sind wir Herrn Dr. Ulrich Bartels, Universität Hildesheim, sehr verbunden, so wie wir hier einen Hinweis auch auf seinen einschlägigen Text zu unserem Thema nachtragen wollen: Ulrich Bartels, ‚Zur Interpretation von Beethovens Hammerklaviersonate op. 106. Eine diskographisch-analytische Studie‘, in: Musiktheorie 14 (1999), S. 149–169. – Ist es uns leider unmöglich, die Aufnahmen jetzt noch Takt für Takt zu untersuchen und statistisch auszuwerten, so lässt sich eine wichtige Frage dennoch leicht beantworten und in Beziehung zu den hier dargestellten Ergebnissen setzen: die Frage nach der Spieldauer bzw. dem mittleren Tempo. Ohne Expositionswiederholung benötigen Kempff und Bühlig für den Satz jeweils 8:34 Min., Kentner 10:14 Min. An der am Ende von Kapitel 6b getroffenen Feststellung ändert sich demnach nichts, sie wird durch die Befunde sogar bestätigt: Die sehr raschen Tempi Schnabels und Giesekings waren nicht repräsentativ für die 1930/40er Jahre.
[19] Erstaunlicherweise spielte laut dem Bericht von Cesar Searchinger selbst Artur Schnabel die Hammerklaviersonate vor 1926 „only rarely in public“, weshalb er in jenem Jahr in London ein Konzert zur „self-examination“ veranstaltete, von dessen Ausgang er den Plan, im folgenden Jahr alle Sonaten zu Gehör zu bringen, abhängig machte. Cesar Searchinger, Artur Schnabel. A Biography, London 1957, S. 180ff.
[20] Breitkopf & Härtel, Leipzig.
[21] Carl Czerny, Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethovenschen Klavierwerke nebst Czerny’s „Erinnerungen an Beethoven“, herausgegeben und kommentiert von Paul Badura-Skoda, Wien 1963, S. 58 [66].
[22] Anton Schindler, The Life of Beethoven, Including his Correspondence with his Friends, hrsg. von Ignaz Moscheles, Bd. 2, London 1841, S. 252, Anmerkung.
[23] Stuttgart und Berlin: J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger.
[24] Otto Forberg, Leipzig.
[25] G. Ricordi, Rom.
[26] Breitkopf & Härtel, Leipzig.
[27] Stuttgart und Berlin: J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger.
[28] B. Schott’s Söhne, Mainz und Leipzig.
[29] Der Text von Samuil Feinberg, ‚Betchoven. Sonata op. 106 (ispolnitel‘skij kommentarij)‘, wurde 1968 in Moskau in den Voprosy fortepiannogo ispolnitelstvo, Vypusk 2, veröffentlicht, dürfte aber deutlich älteren Datums sein. Feinberg verstarb im Jahre 1962.
[30] William S. Newman, Performance Practices in Beethoven’s Piano Sonatas. An Introduction, New York 1971, S. 52.
[31] Associated Board of the Royal School of Music, London.
[32] Franz Gerhard Wegeler und Ferdinand Ries, Biographische Notizen über Ludwig van Beethoven, Koblenz 1838, S. 148ff.
[33] Breitkopf & Härtel, Leipzig.
[34] Aleksandr Gol’denvejzer, Tridcat‘ dve sonaty Betchovena. Ispolnitel’skie kommentarii, Moskau 1966, S. 219; Martin Cooper, Beethoven. The Last Decade 1817–1827, Oxford u.a. 1970, Revised and reprinted in paperback 1985, S. 159.
[35] Carl Reinecke, Die Beethoven’schen Clavier-Sonaten. Briefe an eine Freundin, Leipzig [21897], S. 97.
[36] Ebenda, S. 101.
[37] Ullstein, Berlin.
[38] Edwin Fischer, Ludwig van Beethovens Klaviersonaten. Ein Begleiter für Studierende und Liebhaber, Wiesbaden 1956, S. 118f.
[39] Hermann Keller, ‚Die Hammerklaviersonate‘, in: Neue Zeitschrift für Musik, Dezember 1958, http://www.hermann-keller.org/plaintext/aufsaetzeinzeitschriftenundzeitungen/1958diehammerklaviersonate.html
(besucht zuletzt am 3. Januar 2013).
[40] Claudio Arrau, Leben mit der Musik. Aufgezeichnet von Joseph Horowitz, Bern u.a. 1984, S. 185.
[41] Feinberg, ‚Betchoven. Sonata op. 106‘ (wie Anm. 29).
[42] Stephen Lehmann, Rudolf Serkin: A Life, Oxford u.a. 2003, S. 80.
[43] Newman, Performance Practices in Beethoven’s Piano Sonatas (wie Anm. 30).
[44] Cooper, Beethoven (wie Anm. 34), S. 160.
[45] Bruno Monsaingeon, Sviatoslav Richter. Notebooks and Conversations, Princeton N. J. 2001, S. 208.
[46] Alfred Brendel, Nachdenken über Musik, München u.a. 1976, Taschenbuchausgabe 1982, S. 32; Ders., Ausgerechnet ich. Gespräche mit Martin Meyer, München u.a. 2001, S. 208.
[47] Brendel, Nachdenken über Musik (wie Anm. 46).
[48] Brendel, Ausgerechnet ich (wie Anm. 46).
[49] Charles Rosen, The Classical Style. Haydn, Mozart, Beethoven, New York 1971, zitiert nach der deutschen Übersetzung Der klassische Stil. Haydn, Mozart, Beethoven, Kassel u.a. 1983, S. 475.
[50] Paul Badura-Skoda, ‚Große Sonate für das Hammerklavier op. 106 B-Dur‘, in: ders. und Jörg Demus, Die Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven, Wiesbaden 1970, S. 174f.
[51] Carl Czerny, Über den richtigen Vortrag (wie Anm. 21), ‚Kommentar‘, S. 6.
[52] Joachim Kaiser, Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten, Frankfurt/M. 1984, S. 508.
[53] Ebenda, S. 509.
[54] Ebenda.
[55] Charles Rosen, Beethoven’s Piano Sonatas. A Short Companion, New Haven u.a. 2002, S. 219.
[56] Rainer Riehn, ‚Eine musikalische Schlittenfahrt oder Wie man sich um Beethovens Anweisungen scherte‘, in: Beethoven. Das Problem der Interpretation, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Musik-Konzepte 8), München 1979, S. 97–103.
[57] Robert Taub, Playing the Beethoven Piano Sonatas, Portland, Oregon 2002, S. 211.
[58] Beethovens Klaviersonaten und ihre Deutung. „Für jeden Ton die Sprache finden …“ – András Schiff im Gespräch mit Martin Meyer, Bonn 2007, S. 84.
[59] Bei der Berechnung der Tempoamplitude in der Appassionata haben wir die Tempowerte der Takte 13, 16, 150 und 151 ausgeschlossen sowie T. 235ff. (das Più Allegro); bei der Sonate op. 2/3 haben wir die Takte 90, 108, 218–232 und 246 ausgeschlossen; bei der Hammerklaviersonate die Takte 4, 8, 32–34, 38, 65–66, 69, 121, 123, 131, 133, 199, 200, 234, 264–266, 268, 297, 298, 301 und 372. Darüber hinaus haben wir bei allen drei Sonaten, um die Bedeutung einzelner Tempospitzen oder Tempotäler auch weiterhin nicht zu überschätzen, oben und unten jeweils 2% der äußersten Tempowerte verworfen (siehe Kapitel 2).
[60] Zu den dramatischen Verlangsamungen in den russisch-sowjetischen Appassionata-Einspielungen siehe ausführlicher unseren Text ‚Das Tempo in Beethovens Appassionata‘ (wie Anm. 1).
[61] Friedrich Gulda, ‚Rede anläßlich der Verleihung des Beethovenringes durch die Wiener Musikakademie‘, in: Worte zur Musik, München 1971, S. 95–99.
[62] Glenn Gould, ‚Beethovens Pathétique, Mondscheinsonate und Appassionata‘, in: Von Bach bis Boulez. Schriften zur Musik I, herausgegeben und eingeleitet von Tim Page, München u.a. 21987, S. 84–87.
[63] Kenneth Drake, The Sonatas of Beethoven as He Played and Taught Them, Cincinatti 1972, S. 36–41.
[64] Mysli o Betchovene. Rossijskie pianisty ob ispolnenii […] Betchovena, hrsg. von Boris Borodin und Arkadij Luk‘janov, Moskau 2010, S. 104.
[65] Sven Werner wird seine Magister-Arbeit 2013 im Fach Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin einreichen.
[66] Zu anderen Ergebnissen gelangte dagegen unsere Untersuchung zur Tempogestaltung im Kopfsatz von Beethovens Streichquartett op. 95, wo sich das Tempo seit den 1970er Jahren kontinuierlich beschleunigt hat. Zu diesem Satz gibt es allerdings auch eine sehr rasche Metronomangabe Beethovens. Heinz von Loesch und Fabian Brinkmann, ‚Tempogestaltung im Kopfsatz von op. 95: Eine exemplarische Studie zur Interpretationsgeschichte von Beethovens Streichquartetten‘, in: Beethovens Kammermusik. Das Handbuch, hrsg. von Friedrich Geiger und Martina Sichardt, Laaber (Das Beethoven-Handbuch 4) (im Druck).
[67] Adolf Bernhard Marx, Anleitung zum Vortrag Beethovenscher Klavierwerke, Berlin 1863, S. 105, Berlin 1875, S. 62.
[68] Theodor W. Adorno, ‚Neue Tempi‘ (1928), in: Moments musicaux, Frankfurt/M. 1964, S. 74–83.
[69] Grete Wehmeyer, Prestißißimo. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit in der Musik, Hamburg 1989.
[70] Robert Philip, Early Recordings and Musical Style: Changing Tastes in Instrumental Performance 1900–1950, Cambridge 1992, S. 35f.
[71] Nicholas Temperly, ‚Tempo and Repeats in Early Nineteenth Century‘, in: Music & Letters 67 (1966), S. 323; Bowen, ‚Tempo, Duration, and Flexibility‘ (wie Anm. 11), S. 114.
[72] Arrau, Leben mit der Musik (wie Anm. 40), S. 246.
[73] Willem Retze Talsma, Wiedergeburt der Klassiker, Bd. 1: Anleitung zur Entmechanisierung der Musik, Innsbruck 1980.
[74] Wehmeyer, Prestißißimo (wie Anm. 69).
[75] Brendel, Ausgerechnet ich (wie Anm. 46), S. 208.
[76] Bowen, ‚Tempo, Duration, and Flexibility‘ (wie Anm. 11), S. 137 und 144.
[77] Siehe Anm. 65.
[78] Welche Takte für das Tempo von Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe ausschlaggebend sein sollen, ist natürlich eine schwierige Frage. Ähnlich schwierig wie die Frage, auf welche Takte sich die Metronombezeichnungen in den Interpretationsausgaben beziehen. Bei der Tempomittlung der vier Hauptabschnitte der Exposition haben wir uns nach längeren Diskussionen im Hauptsatz für die Takte 1–2 entschieden (die allgemein verbreitete Verlangsamung in den Takten 3–4 schien uns bereits außerhalb des Tempos zu sein), bei der Überleitung für die Takte 24–27, beim Seitensatz für die Takte 36–39 und bei der Schlussgruppe für die Takte 51–54.
[79] Als ausschlaggebend bei unseren Tempoberechnungen erachteten wir folgende Takte: Hauptsatz T. 1–8, erste Passagengruppe T. 13–16, Überleitung T. 27–30, ‚muntere‘ Episode T. 39–42, Seitensatz T. 47–50, zweite Passagengruppe T. 61–64, Schlussgruppe T. 78–81, Schlusspassage T. 85–88.
[80] Leipzig: Otto Forberg.
[81] Als ausschlaggebend bei unseren Tempoberechnungen erachteten wir folgende Takte: Hauptsatz T. 1–3, Überleitung T. 35–37, Seitensatz T. 47–50 (1. Abschnitt) und 75–80 (2. Abschnitt), Schlussgruppe T. 100–105.
[82] ‚ ‚Appassionata‘. Mysli masterov‘ (wie Anm. 10).
[83] von Loesch und Brinkmann, ‚Das Tempo in Beethovens Appassionata‘ (wie Anm. 1).
[84] Vgl. Philip, Early Recordings and Musical Style (wie Anm. 70); Bowen, ‚Tempo, Duration, and Flexibility‘ (wie Anm. 11).
[85] von Loesch und Brinkmann, ‚Die Tempogestaltung in Artur Schnabels Appassionata-Einspielung‘ (wie Anm. 1); Heinz von Loesch, ‚ ‚In the very struggle with external difficulties, a sweeping excitement of the mind makes its presence felt‘ – On the Semantics of Virtuosity‘, in: Dzieło muzyczne jako znak (8) [The Musical Work as a Sign. 8th International Symposium], hrsg. von Anna Nowak, Bydgoszcz 2012, S. 41–50.
[86] Der Begriff ‚architektonische Form‘ im Sinne von Jacques Handschin, Musikgeschichte im Überblick, Luzern 1948.
[87] Wilhelm von Lenz, Beethoven.Eine Kunst-Studie, Dritter Theil, Erste Abtheilung: Kritischer Katalog sämmtlicher Werke Beethovens mit Analysen derselben, Erster Theil: I. Periode op. 1 bis op. 20, Hamburg 21860, S. 43.
[88] Leipzig: Otto Forberg.
[89] Alexander Lerch, Software-based Extraction of Objective Parameters from Music Performances, München 2009; Meinard Müller und Verena Konz, ‚Automatisierte Methoden zur Unterstützung der Interpretationsforschung‘, in: Gemessene Interpretation, hrsg. von Loesch und Weinzierl (wie Anm. 1), S. 193–204.
[90] Hans-Joachim Maempel, ‚Musikaufnahmen als Datenquellen der Interpretationsanalyse‘, in: Gemessene Interpretation, hrsg. von Loesch und Weinzierl (wie Anm. 1), S. 157–172.
[91] Vgl. Anm. 65.